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Er konnten nicht anders. Trotz Warnungen der Eltern gab es für Makaya McCraven keinen größeren Traum als Musiker zu werden.

© David Marques

Hype um Makaya McCraven: Dieser Schlagzeuger lässt ein neues Musikzeitalter anbrechen

Es besteht aus Beat und Raum und dem Wissen, dass alles mit allem zusammenhängt. Kompliziert? Im Gegenteil.

Man hört jemanden das Publikum fragen, ob es bereit sei. „How's everybody? Cool?“ Worauf eine Handvoll Leute in irgendeinem kleinen Club sich zustimmend bemerkbar macht. „Also“, fährt der Musiker fort, „wir spielen heute...“

Der Rest seiner Erklärung geht im Halleffekt unter, während die Band aus Xylophon, Keyboard, Drums und Bass einsetzt und einen hypnotisch kreiselnden Rhythmus anstimmt.

Man hört etwas, das der Beat für ein Hip-Hop-Stück werden könnte. Man hört die polyrhythmischen Bewegungen des Afropop. Man hört es zischeln und tapsen. Man hört eine Akkordverschiebung nach drei Minuten. Man hört Variationen kleiner Tonreihen, die mit der Zeit durch weitere kleine Fragmente ergänzt werden. Es könnte ewig so weitergehen. Kein großes Ding.

Interessanter an der Welt Makaya McCravens ist, was man nicht hört in ihr: keine Melodie, keinen Song, keine Botschaft oder kathartische Struktur. Kann sich eine große Sache durch die Abwesenheit dessen auszeichnen, was man von ihr erwartet? Kann eine große Sache vor allem aus kleinen Dingen bestehen?

Dass Makaya McCravens Musik eine große Sache darstellt, ist unbestreitbar. Sein Solodebüt „In the Moment“ wurde 2015 von einflussreichen US-Medien zum „Album des Jahres“ gekürt. Seither ist die Begeisterung, die sich um den mittlerweile 36-jährigen Schlagzeuger verbreitet, mit jedem Werk weiter angewachsen. Ein Dokumentarfilm über die Aufnahmen zu seinem letzten Doppelalbum „Universal Beings“ schildert eindrücklich seine ungewöhnliche Arbeitsweise.

Jede Musik hat ihre bipolare Spannung

Neben dem Saxophonisten Kamasi Washington dürfte McCraven die einflussreichste Stimme seiner Generation sein. Wobei Kamasi Washington und er Antipoden sind.

Jede Musik hat ihre eigene bipolare Spannung. Mal stehen repetitive Muster im Vordergrund wie bei Techno und Minimal und drängen das Bedürfnis nach Akkordbewegungen zurück. Dann wieder dominieren melodiöse Muster wie im Folk.

Es geht mal stärker um den Wert authentischer Erlebnisse, mal um den Reiz virtueller Räume. Im Hip-Hop hat der Sprachgestus die Überhand, im Pop-Hit das Pathos des Refrains.

Jazz pendelt zwischen den Polen Freiheit und Struktur, und die Güte einer Aufnahme wird danach beurteilt, wie virtuos Musiker in diesem Moment Improvisation und Komposition ineinander aufgehen lassen.

Während Kamasi Washington für seinen Cinemascope-Jazz auf die Klangfülle und den mäandernden Sound des Hardbop zurückgreift, ihn um Chöre und Streicher erweitert und auflädt mit der Energie der Black Power, hat McCraven den Jazz-Kontext verlassen.

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Ihm geht es nicht darum, die Musik eines Moments auf CD zu bannen. Das Material seiner Live-Sessions, die als freie kollektive Improvisationen entstehen, wird am Computer von ihm neu zusammengesetzt. Was man hört, ist das Ergebnis einer raffinierten Zerstückelung, einer Collage, die aus der Summe kleiner Attraktionen etwas Großes macht. „Organic Beat Music“, nennt McCraven diesen Hybrid aus Spontanität und Sample, in dem das Echo von Afro-Beat, Krautrock, Hip-Hop und Fusion-Jazz wiederhallt.

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Er sei stets „ein Außenseiter“ gewesen, sagt Makaya McCraven über sich. Dabei spielt es keine Rolle, dass der Ausnahmedrummer sehr wohl aufgenommen worden war in den Kreis von Chicagoer Jazzmusikern, um deren Gunst er sich durch jahrelange harte Arbeit bemüht hatte.

Doch einer, der „die vierte, fünfte, sechste Dimension von Musik erschließen“ will, wie er erklärt, ist wohl dazu verdammt, ein Fremder zu bleiben.

Kooperationen werfen Geistesblitze ab

Für „Universal Beings“ und dessen Fortsetzung der „E&F Sides“ reiste er nach Los Angeles, London und New York, um mit den vielversprechendsten Talenten der dortigen Szenen zusammenzukommen. „Welche Bedeutung hat ein Ort?“, fragt sich McCraven in einem „Noisy“-Artikel. „Ohne die Menschen besteht er nur aus Schmutz.“

Bei einer dieser Sessions hört man den Drummer sagen, dass er seine Mitmusiker "gerade erst kennengelernt" habe.

Jedesmal warfen die Kooperationen genügend musikalische Geistesblitze ab, um Grundlage für neue Songs zu werden. Selbst die digitale Verarbeitung ist nur ein Zwischenschritt. Oftmals gehen aus ihr Stücke hervor, die McCraven seine Mitmusiker einstudieren lässt. Und so geht das Spiel in die nächste Verarbeitungsschleife.

Nicht dazuzugehören, mag eine naheliegende Erfahrung sein für den Sohn eines schwarzen Jazzdrummers und einer jüdisch ungarischen Folkmusikerin, die sich Ende der 70er Jahre in Paris getroffen hatten und kurz nach Makayas Geburt 1983 in Amherst, Massachusetts, niederließen. Sie wählten den Ort, weil einige der Jazzgrößen wie Yusuf Lateef dort lebten, mit denen Stephen McCraven regelmäßig unterwegs gewesen war. Als Teil des Archie Shepp Quartetts war er tief im Free Jazz verwurzelt. Seine Frau Ágnes Zsigmondi fühlte sich der osteuropäischen Tradition verpflichtet.

Seine Eltern hätten ihm früh klargemacht, wie anstrengend die Existenz als Musiker ist, hat er dem „Rolling Stone“ erklärt. Aber etwas Besseres als Musik gab es für ihn auch nicht.

Jazz und Hip-Hop

Die Hochschulausbildung zum Schlagzeuger brach er ab. Teils aus Zeitmangel, da er ständig für Auftritte gebucht wurde, teils aus Desinteresse. „Ich will verstehen lernen, wie Musiker vor mir dachten und warum sie etwas taten, aber nicht, welche Noten sie dabei spielten“, sagt er.

Einem "Vice"-Reporter erzählt er, wie er Yusuf Lateef an der Universität begegnete, einem Altmeister des Saxophons und der Querflöte und zahlloser weiterer Instrumente. Lateef schlurfte zum Unterricht, er wollte Oboe lernen, mit über 80 Jahren. Und McCraven begriff, dass seine Suche, wenn es das war, niemals aufhören werde.

Als seine Frau als Uni-Dozentin nach Chicago ging, kam er über regelmäßige Jam-Sessions mit der dortigen Jazz-Szene in Berührung. Und er begriff, dass die meisten Musiker, auf die er traf, ebenso intensiv Hip- Hop hörten wie er.

Mit Blick auf seine Lieblinge Flying Lotus und Madlib war die Grenze zum Jazz ohnehin nicht mehr deutlich zu erkennen. Und sampelten Wu-Tan Clan und A Tribe Called Quest nicht ständig, was ihnen auf alten Jazz- Platten gefallen hatte?

Er eignet sich die Arbeitsweise des Hip-Hop an

Auch Kamasi Washington ist ein Kind der Hip-Hop-Ära. Doch während er deren flow in Jazz zurückübersetzt und sich mit Überblendungen begnügt, geht Makaya McCraven weiter. Er eignet sich auch die Arbeitsweise von Hip-Hop-Produzenten an. Die Gelegenheit dazu bietet sich, als ihm das Angebot gemacht wird, eine Serie von Live-Sessions in Chicago mitschneiden zu lassen. Die Folge: Es häufen sich Stunden um Stunden an frei improvisiertem Material. Doch er schneidet und schnippelt an einzelnen Sequenzen herum, um sie für ein größeres Publikum zugänglicher zu machen. Bannt das Chaos der Avantgarde mit der Maschine, wie es die Krautrock-Pioniere Can gemacht haben, löst isolierte Momente aus ihrem Kontext, um sie in Loops aufzulösen.

Die Spannung aus realem Moment und Ewigkeit in diesen Zeitschleifen erzeugt die transzendente Überhöhung, von der McCraven im Hinblick auf die anderen Dimensionen der Musik spricht.

Von einem Einzelnen kann eine Zeitenwende nicht getragen werden. Tatsächlich ist Makaya McCraven einer unter vielen Musikern, die radikale Schlüsse aus dem Umstand ziehen, dass jede Art von Musik zu jeder Zeit im Internet verfügbar ist. Dass eine Drummaschine so gut ist wie der beste Drummer.

Doch hat er einen Weg gefunden, reale Ereignisse in den Datenstrom einzuspeisen, ohne dass sie ihren Wert verlieren. Denn letztlich werden sie initiiert von Leuten, die mit jedem ihrer Töne etwas zu sagen haben.

Neuinterpretation von Gil Scott-Heron

Wie groß die Meisterschaft McCravens mittlerweile ist, verdeutlicht dessen Überarbeitung von Gil Scott-Herons letztem Album „I'm New Here“, die Anfang 2020 unter dem Titel „We're New Again – a Reimagining“ erschienen ist. Das Original war 2010 von Richard Russel als post-industrielles Mahnmal inszeniert worden, ein Jahr vor dem Tod des Hip-Hop-Pioniers („The Revolution will not be televised“).

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Aber was heißt schon Original? Es sei vor allem Russels Werk, meinte Scott-Heron im Nachhinein. Der britische Labelchef habe es seit langem unbedingt realisieren wollen. „Da es nichts war, was mich verletzen und mir schaden würde, warum nicht?“

Dass sich Russel in die aufkeimenden Black-Lives-Matter-Proteste hinein an McCraven mit der Idee einer Neuinterpretation wandte, erweist sich als absoluter Glücksgriff. Der ist genau der Richtige, um Gil Scott-Herons düsterne Bestandsaufnahme eines „schwarzen“ Lebens nun als Lebensbeichte eines gebrochenen Mannes erscheinen zu lassen, dessen Warnungen zeitlebens nicht gehört wurden. Eine Seite, die von Russels Wiederentdeckungsfuror überdeckt worden war.

Man muss seine Musik anders hören

Jeder Song ein neues Romankapitel. Unterstützt von seiner Chicagoer Stammtruppe gelingt es McCraven, eine im Traditionsstrom von Soul und Jazz pulsierende Entsprechung für den Satz zu finden, der wie ein Motto über Scott-Herons Lebenslauf steht: „I did not become someone different that I did not want to be.“

Man muss Makaya McCravens Tracks anders hören als Popsongs. Anders als Jazz-Tunes. Anders als Tracks.

In ihnen passiert so wenig, gleichzeitig so viel, dass die Tür in ein Universum der kleinen Dinge aufgestoßen worden ist. Deren Kraft besteht auch darin, dass in McCravens „Beat Science“ die Muster fehlen, die es algorithmischen Programmen erlauben würden, sie zu entschlüsseln. Sie sind für Maschinen unlesbar. Noch.

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