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Protest am Grab. Trauergäste tragen in Istanbul den Sarg von Helin Bölek.

© dpa

Hungerstreik als letzte Waffe gegen den Staat: Nach 288 Tagen stirbt die türkische Folksängerin Helin Bölek

Die Leadsängerin von Grup Yorum protestierte gegen Auftrittsverbot und Verhaftungen. Auf ihrer Beerdigung geraten Trauernde und Polizei aneinander.

Vor tausenden Zuschauern sang Helin Bölek zu Lebzeiten mit der Grup Yorum: Die Folk-Gruppe ist eine Institution in der Türkei. Im Laufe der Jahrzehnte wechselten die Bandmitglieder, die Linie aber blieb: sehr links und sehr kritisch. So links, dass sie von den Behörden verdächtigt wird, die linksextreme DHKP-C zu unterstützen – eine in der Türkei wie Europa verbotene Terrorgruppe.

Seit vier Jahren darf die Gruppe in der Türkei nicht mehr auftreten, ihre Mitglieder wurden verhaftet und vor Gericht gestellt. Aus Protest dagegen trat Bölek in den Hungerstreik – am Freitag starb sie mit 28 Jahren. Zur Beerdigung am Wochenende kam die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas.

Grup Yorum kennt in der Türkei jeder. Als die Band 2010 ihr 25-jähriges Bestehen feierte, drängten sich mehr als 50 000 Fans in ein Istanbuler Fußballstadion, um dabei zu sein. „Yorum“ bedeutet Kommentar oder Bewertung – der Name ist Programm. Anti-Kommunismus gehört seit Gründung der modernen Türkei 1923 zu den Grundelementen der Republik. In den 1970er Jahren, als sich Linksextremisten und rechte Terrorgruppen auf den Straßen bekämpften, eskalierte die Feindschaft zwischen der radikalen Linken und dem Staat. Ein Militärputsch im September 1980 beendete die Auseinandersetzungen. Unter der anschließenden Repression litten vor allem Linke.

Der Hungerstreik hat bei der türkischen und kurdischen Linken Tradition

Helin Bölek war noch nicht geboren, als Grup Yorum von Istanbuler Studenten gegründet wurde, in den letzten Jahren gehörte sie jedoch zu ihren sichtbarsten Mitgliedern. In den Hungerstreik trat sie im „Widerstandshaus“ der Gruppe im militanten Istanbuler Stadtteil Kücükarmutlu, in dem sich schon einmal vor 20 Jahren linksradikale Aktivisten zu Tode hungerten. Diese Widerstandsform hat eine lange Tradition bei der türkischen und kurdischen Linken. Sie ist Ausdruck ihrer Ohnmacht.

„In den letzten zwei Jahren sind fast alle Mitglieder der Gruppe ohne Beweise und aufgrund anonymer Denunziationen verhaftet und mit Strafanadrohungen von bis zu zehn Jahren vor Gericht gestellt worden“, sagte Bölek bei einer Pressekonferenz im Januar. „Als Beweis wird außer anonymen Aussagen nur ein Album von uns angeführt – ein Album, das ganz legal und unter Aufsicht des Kulturministeriums erschienen ist und in allen Musikläden verkauft wurde, das keinen Straftatbestand erfüllt.“

Mit ihrem Hungerstreik wollte die Sängerin nicht nur erreichen, dass Grup Yorum wieder auftreten darf. Sie forderte auch ein Ende der Polizeirazzien gegen das Kulturzentrum der Gruppe, die Freilassung aller inhaftierten Bandmitglieder und die Einstellung aller Gerichtsverfahren. Ankara wies die Forderungen zurück. Erst müsse der Hungerstreik beendet werden, dann könne man reden, erklärte die Regierung. Die Behörden ließen Helin Bölek und ihren Mitstreiter Ibrahim Gökcek, der ebenfalls in den Hungerstreik getreten war, im vergangenen Monat zwangsweise in ein Krankenhaus einweisen. Nach einer Woche wurden sie wieder entlassen, weil sie die Behandlung verweigerten.

Helin Bölek stirbt mit 28 Jahren. Sie wird als Heldin gefeiert

Die Sängerin blieb unbeugsam. Sie starb am 288. Tag ihres Hungerstreiks. Die Unterstützer trugen ihren Sarg durch eine dicht gedrängte Menschenmenge, die „Hoch lebe der Hungerstreik, hoch lebe unser Widerstand“ skandierte. In Decken gehüllt wurde mit dem Sarg auch der zum Skelett abgemagerte Ibrahim Gökcek im Rollstuhl herausgebracht. Mit schwacher Stimme sprach er in ein Megaphon: Eine Künstlerin sei gestorben, weil sie ihre Kunst ausüben wollte. Bald werde auch er sterben. Aber gewonnen habe nicht der Staat – gewinnen werde das Volk.

Nichts deutet darauf hin, dass Böleks Tod zu einer Verständigung zwischen der Linken und dem Staat führen könnte. Die Polizei nahm bei ihrer Beisetzung mehrere Mitarbeiter des Kulturzentrums fest. Als größte Oppositionskraft im Parlament fordert die linksnationale Partei CHP, die Regierung solle die Forderungen des Hungerstreiks erfüllen, um weitere Todesfälle zu verhindern. Doch Innenminister Süleyman Soylu lehnt die Forderung ab.

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