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"Ungeimpft" steht auf einem nachgebildeten "Judenstern" am Arm eines Mannes auf einer Demonstration.

© Boris Roessler/dpa

Horvilleur-Pflichtlektüre für Verantwortliche in ganz Europa: Warum sich Rechte einen „Judenstern“ anheften

Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur zeigt in ihrem Essay auf, wie irrational die vielen Facetten der Judenfeindschaft heute sind.

Von Caroline Fetscher

Antisemiten werden Juden überall aufspüren. Da können diese machen, was sie wollen. Denn Antisemiten orten „Juden“ in allen Gestalten – zu reich und zu arm, zu revolutionär und zu bürgerlich, zu kapitalistisch und zu sozialistisch, zu systemtragend und zu systembedrohend. „Juden“ verbergen sich hinter Unauffälligkeit oder fallen zu stark auf, sie heiraten nur unter sich oder begehren die Frauen von Nichtjuden. Sie sind, sie bleiben eine Fantasie – von Judenfeindlichkeit. 

Delphine Horvilleur, brillante Autorin der „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“, resümiert: „Die Juden sind immer ein bisschen zu ähnlich und immer ein bisschen zu anders. Sie sind so unverfroren, sich stets assimilieren zu wollen oder aber woanders ihre Souveränität einzufordern; nicht gehen oder nicht bleiben zu wollen.“ (Delphine Horvilleur: „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Hanser Verlag, München 2020, 160 S., 18 Euro.)

Horvilleur hat eines der Bücher zur Stunde verfasst, auch wenn ihre im Februar auf Deutsch erschienene Studie die wilden, wirren Thesen über das Virus und „die Juden“ oder „die Israelis“ in Zeiten von Corona nicht berücksichtigen konnte, ebenso wenig wie die aktuelle Debatte um Achille Mbembe und die Fixierung auf „Israelkritik“ in Teilen der „Postcolonial Studies“. Horvilleurs „Réflexions sur la question antisémite“ sind schon 2019 in Frankreich erschienen und müssten jetzt Pflichtlektüre für Verantwortliche in ganz Europa werden, nicht nur in Politik, Bildung und Medien.

„Es gibt keine Judenfrage, es gibt nur eine Antisemitismusfrage“, erklärt die liberale, progressive Rabbinerin, geboren 1974 und verheiratet mit dem Bürgermeister des vierten Arrondissements von Paris. Klarer und frischer als Horvilleurs lässt sich der analytische Geist kaum vorstellen, mit dem diesem Thema beizukommen wäre. Einleuchten sollte insbesondere ihre These zum Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus. 

„Fremde“ werden aus Verachtung gehasst, weil sie etwas nicht haben, nicht die gleiche Sprache, Bildung, Hautfarbe oder Speise wie „wir“. Juden werden aus Neid gehasst, für das, „was sie haben, nicht für das, was sie nicht haben“, dafür, „etwas zu besitzen, was eigentlich uns zufallen sollte“, wie Macht, Geld, Privilegien, Bildung, Leichtigkeit, Kreativität, Ehrungen – der Katalog ist lang.

Juden werden aus Neid gehasst

„Juden“, so Horvilleur, „verkörpern in jeder Lebenslage etwas Überschüssiges: Etwas an ihnen ist zu viel, mehr als nötig oder ,mehr, als ich selbst habe‘.“ Sogar als Überlebende der Shoah haben sie etwas voraus: „Ihr Leid hat etwas Überschüssiges und damit Unerhörtes.“ Als Opfer, als Diskriminierte müssten sie eigentlich „weniger als ich“ wirken! Doch paradoxerweise hat sich noch daraus ein Mehr ergeben „wie ein beneidenswerter Vorteil“.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]

Selbst gebildeten Zeitgenossen unter Nichtjuden, auch und gerade in Deutschland, entfahren Bemerkungen zu Palästinensern als „dem Volk, dem am meisten Unrecht jemals angetan wurde“. Ignoriert und verdrängt werden soll dabei, wer wem das präzedenzlose Verbrechen der Shoah zugefügt hat, das statistisch, juristisch, zeithistorisch unbestreitbar bleibt. Doch die Tatsache des Genozids durch die Täterinnen und Täter des „Dritten Reichs“ stört die Abfuhrdynamik von Antisemitinnen und Antisemiten. Juden, sagte Horvilleur in einem Interview, „verkörpern die Fortsetzung der unendlichen Weitererzählung der existenziellen Schwachstelle desjenigen, der den Antisemitismus ausdrückt.“

In diesen Tagen tauchen in Deutschland Rechtsradikale auf „Hygiene-Demonstrationen“ auf, die T-Shirts tragen mit der Abbildung eines gelben Sterns oder dem Portrait von Anne Frank. Mit dieser Volte, deren Absurdität und Schamlosigkeit kaum überbietbar ist, versuchen sie eine Opfer-Dividende einzustreichen, indem sie sich als die Sündenböcke markieren, die von Leuten wie ihnen ausgrenzend markiert wurden und werden. Wie irrational die vielen Facetten der Judenfeindschaft sind, dem kommt Horvilleurs „Antisemitologie“, wie sie ihr Verfahren treffend benennt, auf die Spur. Lesen!

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