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Kultur: Historiker seines eigenen Lebens

Die Perestrojka als dritter Weg: Michail Gorbatschow hat sein politisches Testament verfasst.

Als Prolog zu seinem neuen Buch dienen dem 82-jährigen Michail Gorbatschow Auszüge aus seinem Tagebuch um die Jahrtausendwende. Im September 1999 war seine Ehefrau Raissa mit nur 67 Jahren an Krebs gestorben. Gorbatschow fühlt sich bis heute schuldig. Schuldig, dass er ihr nicht hat helfen können, schuldig, sie am Ende überlebt zu haben: „Wir konnten einander nichts zum Abschied sagen.“ So ist das Buch – „anders als alle Bücher, die ich bisher verfasst habe“, wie er beteuert – nun seiner Frau gewidmet. Und in diesen Tagebuchnotizen findet sich der Schmerz des Trauernden. Ein Buch über „mein Leben“, wie es der Titel verspricht, ist es aber nur in Ansätzen geworden. Und es ist auch nicht etwas völlig Neues. Legt man die voluminösen „Erinnerungen“ aus dem Jahr 1995 daneben, erkennt man, dass der achtzehn Jahre alte Text um einige Passagen zum Privatleben und ein paar Aktualisierungen ergänzt worden ist.

Der ehemalige Zentralsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und Friedensnobelpreisträger konzentriert sich in „Alles zu seiner Zeit“, das inzwischen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste geführt wird, ganz auf seinen Lebensweg, die Stationen seiner politischen Karriere, auf Begegnungen mit Weggefährten, Rivalen, Förderern, und die politischen Umwälzungen in seiner Heimat (und nebenbei in der Welt). Was diesmal fehlt, sind die Kapitel zur Außenpolitik. Auch der Prozess zur deutschen Wiedervereinigung kommt hier kaum vor. Erich Honecker beispielsweise ist nur einmal erwähnt, Helmut Kohl nicht viel häufiger.

Auffallend ist, dass Gorbatschow Wladimir Putin zwei Mal namentlich erwähnt und einmal sogar anerkennend über eine Begegnung vom Anfang der 1990er Jahre berichtet, also vor dessen Zeit als Regierungschef. In den kritischen Anmerkungen zu Putins Regierungsjahren nennt Gorbatschow Russlands Präsidenten dann nicht mehr namentlich.

Die „Erinnerungen“ sind ausführlicher und authentischer, vor allem weil das Buch viele Jahre näher am historischen Geschehen verfasst wurde als das aktuelle. Der frühere Text wirkt deshalb auch spannender und anschaulicher in vielen konkreten Schilderungen von Begegnungen und historischen Ereignissen. Im aktuellen, stark verschlankten Buch hat Michail Gorbatschow die meisten Zitate aus Dokumenten getilgt. Jetzt berichtet er stattdessen nüchtern, er analysiert und deutet, er fasst zusammen. Es ist damit so etwas wie der Bericht eines Historikers geworden.

Ergänzende Notizen finden sich über den Präsidentschaftswahlkampf von 1996. Darin wird die Ausgrenzung und Diffamierung durch den Nachfolger Boris Jelzin deutlich. Und Gorbatschow rügt den „zynischen Umgang“ des Westens mit Russland und vor allem die konservative amerikanische Führung um Dick Cheney, den Verteidigungsminister und späteren Vizepräsidenten, Donald Rumsfeld, den späteren Nachfolger von Cheney, und Robert Gates, den Direktor der CIA. Nicht ohne Bitterkeit schreibt Gorbatschow: „Der konservativste Teil des amerikanischen Establishments und seine Vertreter um Bush sowie schließlich auch der amerikanische Präsident selbst setzten auf Jelzin, da dessen Ziele, die Union zu zerstückeln und aufzulösen, im Interesse der amerikanischen Führung waren. Offenbar fand diese, ein geschwächtes Russland unter Jelzin sei eher in ihrem Interesse als die Perspektive einer erneuerten Union, für die sich Gorbatschow einsetzte. Das entspricht auch mehr der traditionellen amerikanischen Gewaltstrategie, die nur ,Sieg oder Niederlage’ kennt. Nicht umsonst spielten Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes, des Nachrichtendienstes und der Ölmonopole eine so aktive Rolle für die Beziehungen Amerikas zur Sowjetunion und zu Jelzins Linie, diese zu zerstören. Das galt insbesondere für Cheney, Rumsfeld und Gates.“

Eine sehr kurzsichtige Politik, meint Gorbatschow, denn diese überhebliche Siegermentalität habe schließlich zum Anwachsen antiamerikanischer Stimmungen geführt, die in den Terroranschlägen vom September 2001 ihren Höhepunkt fanden.

Für seine eigene Politik verhehlt Gorbatschow nicht eine Reihe von Fehlern im Reformprozess: das Konsumangebot hätte ausgebaut, die Rüstungsindustrie „mutiger und konsequenter“ umgestellt, die Reformierung der KPdSU rascher umgesetzt werden müssen. Auffallend defensiv und entschuldigend klingt Gorbatschow in diesen Passagen – man spürt förmlich, welchen Anfeindungen der ehemalige Regierungschef in seiner Heimat ausgesetzt war und noch immer ausgesetzt ist. „Wir haben die klare Unterstützung des Volkes am Anfang nicht voll ausgenutzt“, schreibt Gorbatschow.

Doch das Fazit für seine bahnbrechenden Umwälzungen ist eindeutig: „Die Perestrojka war als Alternative zu den beiden historischen Extremen konzipiert: dem egoistischen, auf Privatbesitz schwörenden Kapitalismus auf der einen Seite und dem stalinistischen Totalitarismus auf der anderen. Zugleich war sie eine ebenso spontane wie zielstrebige Bewegung, um die positiven Aspekte des Sozialismus und Kapitalismus miteinander zu verschmelzen. Für sich genommen war die Perestrojka eine historische Leistung: Immerhin befreite sich die sowjetische Gesellschaft aus eigener Kraft vom totalitären System und bereitete auch anderen Ländern und Völkern den Weg hin zu Freiheit und Demokratie.“

Der 82-jährige Michail Gorbatschow hat mit diesem Buch ein abgewogenes politisches Testament für die Nachwelt hinterlassen und damit auch eine Orientierung für die Gestaltung der Welt in der Zukunft geliefert.





– Michail

Gorbatschow:
Alles

zu seiner Zeit. Mein Leben. Aus dem Russischen von Birgit Veit. Hoffmann & Campe, Hamburg 2013. 550 Seiten, 24,99 Euro

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