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Historiker Ralf Stabel: "Die Staatsoper war mit Spitzeln durchsetzt"

Von der Kasse bis zur Intendanz: Der Historiker Ralf Stabel hat ein Buch über die Unterwanderung der DDR-Tanzszene durch die Stasi geschrieben.

Herr Stabel, in Ihrem Buch „IM ,Tänzer’ – Der Tanz und die Staatssicherheit“ zeigen Sie, wie stark das Ballett in der DDR von der Stasi infiltriert war. Hat es Sie eigentlich überrascht, dass auch zahlreiche Tänzer als Spitzel tätig waren?

Ich war schockiert. Die erste Anfrage bei der Birthler-Behörde habe ich 2003 gestellt. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass so viele Menschen aus der Tanzszene Kollegen bespitzelt hatten.

Warum wurden überhaupt Tänzer ausspioniert?

In den Siebzigern und Achtzigern ging es darum, die hochqualifizierten Tänzer in der DDR zu halten. Man konnte mit ihnen auf Gastspielen und Ballettwettbewerben im Ausland glänzen. Den Genossen war bewusst, dass diese Tänzer auch im Westen ihre Karrieren weiterführen könnten. Nachdem einige dies dann taten, wurde die sogenannte Republikflucht zum wichtigsten Thema.

Sie behandeln ausführlich das Ballett der Deutschen Staatsoper Berlin, das Vorzeige-Ensemble der DDR.

Es war von der Kasse bis zur Intendanz mit Spitzeln durchsetzt. Die Staatsoper war eines der Aushängeschilder der DDR, da saßen Ulbricht und Honecker in der Loge. Hier wollte man alles unter Kontrolle haben, alles wissen.

Die Inoffiziellen Mitarbeiter „Othello“, „Fischer“, „Klaus Schröter“, „Giselle“ und andere waren Tänzer an der Staatsoper. Was haben diese Spitzel gemeldet?

Alles Erdenkliche: wer mit wem, wer mit wem nicht mehr. Wer welche sexuelle Orientierung hatte, wer in festen Verhältnissen lebte. Wer welche Meinung zur DDR hatte, wer moralisch labil war, wer zum Alkohol neigte, wer von wem ein Kind erwartete. Wer die Chance auf eine Anstellung im Westen hatte und wer nicht. Unvorstellbar, was da „ausgeplaudert“ wurde. Die Informationen dienten dazu, herauszufinden, ob einer als „Reisekader“ eingesetzt werden konnte.

Anders lag der Fall bei der Komischen Oper. Sie machte der Stasi Kopfzebrechen.

Die Komische Oper war von Anfang an ein internationales Haus dank Walter Felsenstein. Dadurch war sie suspekt. Aber der Stasi ist es zunächst nicht richtig gelungen, dort einzudringen. Es wird berichtet, dass Tom Schilling, der Leiter des Tanztheaters, den Mitarbeitern des MfS die Tür gewiesen habe. Er war sich sicher, dass Felsenstein ihn schützen würde. Da konnten natürlich auch die Tänzer mutiger sein.

Sie schildern das Stasi-System „René“. Wie funktionierte das?

Vor dem „Erscheinen“ des hauptamtlichen Führungsoffiziers „René“ gab es verschiedene Führungsoffiziere, die mal diesen, mal jenen IM anwarben. Aber die Aussagen der IMs wurden nicht verglichen, wodurch sie relativ sinnlos waren. Dann wurde „René“ installiert. Er steht im Zentrum eines Systems, das die Kulturinstitutionen unterwanderte. Er hat bis zu 30 IMs geführt und sie zu einem Netz zusammengefasst. Er hat verschiedene Aussagen zusammengetragen und konnte dann wie ein Profiler ein Bild jeder Person erstellen. Er tat dies in großem Umfang.

Gab es bei den Tänzern ein Bewusstsein für die Bespitzelung?

An der Komischen Oper wurden einmal zwei Tänzer von der Bühne weg verhaftet. Die „Herren“ der Stasi standen neben der Bühne und warteten auf das Ende der Vorstellung. Die beiden jungen Männer hatten sich vor dem Helsinki-Gastspiel irgendwie verdächtig verhalten und wurden denunziert. Sie landeten wegen „versuchter Republikflucht“ im Gefängnis.

Wurden in der Tanzszene Karrieren zerstört und Leben beschädigt?

Natürlich. Der tragischste Fall ist der einer Tänzerin, die bei dem Helsinki-Gastspiel abgehauen war. Sie kehrte aber in die DDR zurück, weil sie ihr Kind nicht allein lassen wollte. An der Staatsoper, wo sie engagiert war, wurde sie dann von den Kollegen gemobbt. Sie sprang schließlich aus einem Hochhaus.

Eine Sonderstellung in Ihrem Buch nimmt die Choreografin Gret Palucca ein.

Die Palucca war die herausragende Tänzerpersönlichkeit der DDR. Man wollte sie unter allen Umständen in der DDR halten, obwohl ihre Auffassung von modernem Tanz der SED nicht passte. Die Frau war aber unglaublich widerborstig. Sie musste ständig unter Kontrolle gehalten werden. 1959 ist sie in den Westen geflohen und verhandelte aus Sylt über ihre Rückkehr. Sie drohte damit, der Palucca-Schule, die schon längst verstaatlicht war, ihren Namen zu entziehen. Die Stasi hat versucht, jede Minute ihres Lebens zu überwachen – durch Pianisten und Schüler, durch die Kollegen und den Direktor der Schule.

Eine öffentliche Diskussion zu den Stasi-Verstrickungen in der Tanzszene steht noch aus.

Die Diskussion hat schon begonnen, das zeigen die teils sehr emotionalen Reaktionen auf das Buch. Vor allem wünsche ich mir, dass die Tänzer zur Birthler-Behörde gehen und ihre Akten einsehen.

Das Interview führte Sandra Luzina.


Ralf Stabel: IM „Tänzer“ – Der Tanz und die Staatssicherheit. Schott Verlag Mainz, 2008, 231 Seiten. 24,95 €  Ralf Stabel ist Tanzhistoriker und promovierte zum Thema Tanz und Politik. Er leitet die Staatliche Balletschule Berlin und lehrt an der Ernst-Busch-Hochschule für Schauspiel.

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