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Der Historiker Götz Aly.

© imago/Gerhard Leber

Historiker Götz Aly zum 70.: Skepsis geht vor Gewissheit

Götz Aly erschüttert mit seiner Forschung zum Nationalsozialismus immer wieder Gewissheiten und schreckt auch vor ungemütlichen Einsichten nicht zurück. Eine Gratulation zum 70. Geburtstag.

Als Götz Aly vor zehn Jahren seine von ihm sogenannte Streitschrift zum vierzigjährigen Jubiläum der 68er-Revolte veröffentlichte, „Unser Kampf“, und darin die 68er unter anderem als „sehr deutsche Spätausläufer des Totalitarismus“ geißelte, war ihm bewusst, dass die Vorstellungen dieses Buches kein Schaulaufen werden würden. „In Grüppchen untergehakt rückten die Kampfgefährtinnen und Kampfgefährten zu meinen etwa 40 Lesungen an“, schrieb er später in einem Vorwort zur Taschenbuchausgabe. „Humorfrei und stahlgrau nahmen sie Platz und legten los: ,Renegat! Konvertit! Geschäftemacher! Nein, lesen werden wir das Machwerk nicht.‘ Anwürfe wie ,Verräter‘ und ,Denunziant‘ wurden engagiert von Hocherregten vorgetragen, die gleichzeitig den ,ausschließlich aufklärerischen Charakter unserer Bewegung‘ und ihre eigene Unschuld beteuerten.“

Allerdings wäre Aly enttäuscht gewesen, hätte er nur Beifall für sein 68er-Buch bekommen. So wie er, der am heutigen Mittwoch seinen 70. Geburtstag feiert, sich wundern würde, nicht mehr von der akademisch-etablierten Geschichtswissenschaft angefeindet zu werden, wenn es um die Hauptthemen geht, die er seit nunmehr dreißig Jahren als freischaffender Historiker bearbeitet: Nationalsozialismus und Holocaust.

Er forschte unter anderem zu den Euthanasiemorden und zur Ideologie-Empfänglichkeit der Deutschen

Aly erschüttert mit seinen Forschungen immer wieder Gewissheiten, konservative wie linke, er schreckt nicht vor ungemütlichen Einsichten zurück. Wie zum Beispiel der aus seinem Buch „Hitlers Volksstaat“ – dass der Nationalsozialismus eben aus der Mitte des deutschen Volkes kam, die Menschen, die Hitler zujubelten, keine Monster waren. Dass selbst „das Gute ungemein Böses bewirken“ kann, so wie die Sozialleistungen des Hitlerstaates, dessen Bildungspolitik und wirtschaftliche Mobilisierung. Und nicht zuletzt Demokratie und soziale Gleichheit hätten ebenfalls zum Judenhass geführt. Aber eben auch Neid, Habgier, Kleinmut und Eigennutz seien Gründe für die NS-Ideologie-Empfänglichkeit der Deutschen gewesen, wie Aly nicht müde wird zu betonen. Bei Aly stehen nie allein Täter und Opfer im Mittelpunkt, sondern historische Entwicklungen, wie in seinem letzten Buch über den gesamteuropäischen Antisemitismus „Europa gegen die Juden. 1880–1945“. Oder wie in seiner Studie über die Euthanasiemorde der Nazis jene Deutschen, die sehr einverstanden damit waren, dass ihre kranken, pflegebedürftigen Verwandten in Anstalten und schließlich ganz verschwanden. Allein der Titel dieser Studie spricht da für sich: „Die Belasteten“.

Seine Tochter, die kurz nach ihrer Geburt eine Streptokokkeninfektion erlitt und schwerbehindert ist, brachte ihn Anfang der achtziger Jahre auf das Thema der Euthanasiemorde, und Aly hat zudem auch nach Verstrickungen der eigenen Familie in der NS-Zeit geforscht und etwa seinen Großvater Friedrich Schneider als jemanden porträtiert, der sich wegen des Verlusts seines Arbeitsplatzes Vorteile durch einen Parteieintritt versprach und somit seinen Teil zur Vernichtungsmaschinerie der Nazis beitrug.

Aly warnt davor, zu glauben, Nationalsozialismus und Holocaust könnten sich nicht wiederholen

„Pragmatische Skepsis“ lehre die Geschichte des 20. Jahrhunderts, keine Gewissheiten, ist Aly überzeugt und verdammt in diesem Zusammenhang die Beschwörung der Unerklärbarkeit und Einzigartigkeit des Holocausts. Weshalb er stets davor warnt, zu glauben, Nationalsozialismus und Holocaust könnten sich nicht wiederholen. Die Geschichte kennt nun mal kein Ende.

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