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Die österreichische Schriftstellerin Gertraud Klemm.

© Pamela Rußmann

„Hippocampus“ von Gertraud Klemm: Die Rache des Seepferdchens

Hochtourig, angriffslustig und dabei ausgesprochen unterhaltsam: Gertraud Klemms antipatriachaler Österreich-Roman „Hippocampus“.

Die österreichische Schriftstellerin Helene Schulze betrachtete es als ihre Lebensaufgabe, „sich durch die taube Hornhaut der Gesellschaft durchzunagen“. Nun ist die kompromisslose Avantgardistin und in allen Farben des Protests schillernde Feministin mit Anfang sechzig überraschend gestorben. Daraufhin katapultiert der sensationslüsterne Literaturbetrieb Schulzes nachgelassenen Roman „Drohnenkönig“ auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Dorthin sei sie nur gelangt, weil die Jury „sich mit ihrer politischen Beweglichkeit schmücken“, sich aber keinesfalls „mit dem Frauendings schmutzig machen“ wollte, vermutet Elvira Katzenschlager, die beste Freundin der Verstorbenen.

Nein, Helene Schulze hat es nie gegeben, sie ist eine fiktive Figur aus Gertraud Klemms neuem Roman „Hippocampus“. Klemm selbst jedoch stand mit ihrem Roman „Aberland“ im Jahr 2015 auf der Longlist dieses Preises. Nun reflektiert sie in „Hippocampus“ mit herbfrischer Ironie die Usancen des deutschsprachigen Literaturbetriebs und protestiert gegen dessen Vereinnahmungsstrategien. Denn flugs taucht bei Helene Schulzes Beerdigung reumütig eben jener „kleine dicke Kritiker“ auf, der einst beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb ihren Text in Grund und Boden gestampft hatte.

Mit dem Porträt von Elvira Katzenschlager als ehemaliger Kommunardin und Mitarbeiterin eines Wanderzirkus hat Klemm die Wunschbiografie einer völlig freien Frau verfasst. Um den Nachlass der Freundin zu sichten und vor allem zu sichern, verlässt die resolute Endfünfzigerin ihr geliebtes Wien und begibt sich in die Provinz. Dort findet sie Helene Schulzes letztes Wohnhaus trist und feucht, aber mit erlesenen Alkoholvorräten vor.

Antipatriarchale und antiklerikale Haltung

Vor ihrem „Erkenntnissturz“, der sie ihr Leben ändern ließ, hatte die Schriftstellerin gutbürgerlich mit ihrer Familie im sogenannten Kaiserbad gewohnt. Mit diesem Terminus karikiert die österreichische, ebenfalls schon zu Shortlist-Buchpreis-Ehren gekommene Schriftstellerin Marlene Streeruwitz ihre Geburtsstadt Baden bei Wien. Und hier kam Marianne Hainisch zur Welt, die als Begründerin der österreichischen Frauenbewegung gilt – dennoch konnte sich die Stadt bislang nicht durchringen, ihr ein Museum zu widmen.

Streeruwitz erlaubte ihrer in Baden aufgewachsenen und gleichgesinnten Kollegin Gertraud Klemm, diesen Namen ebenfalls zu benutzen: „Der Kaiserbader Gemeinderat hat lieber die Aufstellung eines weiteren Operettenkomponisten-Denkmals im Kurpark bewilligt als das einer Frau. Denn von Operette und Kaiserkram kann Kaiserbad einfach nie den Hals vollkriegen.“

Gertraud Klemm gestaltet diese antipatriarchale und antiklerikale Haltung mit der ihr eigenen erzählerischen Konsequenz. Sie entwirft ein lebenssprühendes Requiem auf eine unangepasste, verkannte Künstlerin und zugleich ein aberwitziges Roadmovie, das im Kleinbus durch Österreich bis nach Neapel führt. Denn Elvira ärgert sich so sehr über die ignoranten Reaktionen der Öffentlichkeit auf Helene Schulzes Tod, dass sie beschließt, im Namen der Freundin Rache zu nehmen.

Sie will offizielle Skulpturen wie Reiterstandbilder, bei denen sogar die Pferde männlichen Geschlechts sind, feministisch umgestalten. Diese „Erregungsskulpturen“ signiert sie alsdann mit einem aufgesprühten Seepferdchen, jenem phänomenalen Meerestier, bei dem die Männchen die befruchteten Eier ihrer Partnerin in der Brusttasche austragen. Zugleich bezeichnet „Hippocampus" jenen Teil des Gehirns, der für die Speicherung von Erinnerungen im Langzeitgedächtnis zuständig ist.

Kühner Protest gegen die Unsichtbarkeit älterer Frauen

Elvira beginnt ihren Feldzug mit einem Obersenatsrat und leidenschaftlichen Jäger, der unerlaubterweise einen „Problembären“ erlegt und nach Helenes Protest auch gleich noch deren geliebten Kater erschossen hatte. Das quittiert Elvira mit einer „Fäkalskulptur“ auf dem Hochsitz des Jägers. Für weitere und noch spektakulärere Aktionen fehlt ihr allerdings ein Helfer. Sie findet ihn dem freien, finanziell klammen Kameramann Adrian. Er schneit ihr als Begleiter einer überforderten ORF-Redakteurin ins Haus, die an einer Dokumentation über Helene Schulze scheitert: „Leider kann man Helene nicht interviewen, um alles aus ihr herauszuquetschen, was die trockene Literaturkritik ein bisschen bunter und saftiger macht.“

Der Dreißigjährige interessiert sich zunächst überhaupt nicht für die „alte, unberechenbare Emanze“, die ihn aber gut bezahlt. Gertraud Klemm gelingt durch diese Figurenkonstellation nicht nur ein kühner Protest gegen die angebliche Unsichtbarkeit älterer Frauen, die nur noch als „Hintergrundgeräusch“ wahrgenommen werden, sondern ebenso ein scharfsichtiges Generationenporträt.

Mit Helene Schulze habe Österreich eine vielgelesene Autorin verloren, heißt es bei der Beerdigung. Dieser Satz, der die Künstlerin wie einen Gebrauchsgegenstand taxiert, ärgert Katzenschlager ganz besonders und entfacht ihren Widerstand. Gertraud Klemm zitiert damit das ignorante Urteil, das die damalige Kulturministerin 2010 beim Tod der Schriftstellerin Brigitte Schwaiger gefällt hatte. Sie war durch den Roman „Wie kommt das Salz ins Meer?“ früh berühmt, später als psychisch krank stigmatisiert und dann weitgehend vergessen worden. Und so ist der hochtourige, angriffslustige und dabei ausgesprochen unterhaltsame Roman „Hippocampus“ nicht zuletzt eine Hommage an Brigitte Schwaiger. (Gertraud Klemm: Hippocampus, Roman. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2019. 384 S., 22,90 €.)

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