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Die Mitschriften des Studenten Friedrich Blanck aus einer Vorlesung des Philosophen und Pädagogen Friedrich Paulsen.

© Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsbibliothek / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, digitale Reproduktion: Jester Blank GbR

Highlights für das Humboldt Forum: Das Ringen um die Wahrheit

2019 soll das Humboldt Forum im Berliner Schloss eröffnen. Wir präsentieren schon jetzt Vorboten der künftigen Sammlungen. Heute: Das Kollegheft von Friedrich Blanck

Studieren, das hieß im 19. Jahrhundert vor allem, sich Lehrbuchwissen anzueignen. Die übliche Lehrform war die Vorlesung, und viele Studierende schrieben dabei eifrig mit. Sie hofften, sich mit ihren Mitschriften Nachschlagewerke zu schaffen, die sie auch nach dem Studium weiter nutzen konnten.

Als Wilhelm von Humboldt 1809/10 seinen Plan für eine in Berlin zu gründende Universität entwickelte, orientierte er sich bereits an einem veränderten Wissenschaftsverständnis. Die Universität sollte weniger ein Ort der alten feudalen Ständeordnung und der Vermittlung von gesichertem Wissen sein, als vielmehr eine Bildungs- und Forschungseinrichtung. Das Kolleg war für Humboldt der Ort, wo sich Dozenten und Studierende zum „forschenden Lernen“ treffen sollten. Damit zog sich die Universität aus jeglichem Erziehungsauftrag zurück und stellte das Lernen dem Studierenden quasi frei.

Was dies praktisch bedeuten konnte, zeigt vielleicht die Mitschrift des Berliner Studenten Friedrich Blanck. Dieser saß 1885 in einer Vorlesung des Philosophen und Pädagogen Friedrich Paulsen und schrieb fleißig mit. Was der Student der Nationalökonomie in Paulsens Vorlesung notierte, können wir heute noch nachlesen, denn eine Familienangehörige schenkte seine Mitschriften 1939 in 13 gebundenen und 27 ungebundenen Heften der Bibliothek der Berliner Universität. 32 seiner „Kolleghefte“ – „Kolleg“ meint hier Vorlesung – sind heute digitalisiert und über die Homepage der Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin für die Öffentlichkeit zugänglich.

Das Buch entstand zur Vorlesung "Anthropologie und Psychologie"

Die zu schmalen Büchlein in Leder gebundenen Hefte waren gut in einer Bibliothek aufzustellen, doch schlichte Nachschlagewerke waren sie nicht. Das hier ausgesuchte Kollegheft, das im Humboldt Forum ausgestellt werden wird, entstand zu Paulsens Vorlesung über „Anthropologie und Psychologie“.

Mit dieser Mitschrift wird deutlich: Studierende sitzen mit eigenen Kenntnissen und Erfahrungen im Hörsaal, sie verarbeiten das Gehörte während des Schreibens und machen sich auch kritische Gedanken dazu. Es ist nicht leicht, während eines Vortrages Notizen zu machen. Bei mehr oder weniger hohem Sprechtempo gilt es gleichzeitig, inhaltlich zu folgen und das Verstandene zu notieren.

Blanck schrieb in dieser Vorlesung Paulsens wohl paraphrasierend, also sinngemäß mit. Nur selten musste er nachträglich korrigieren, aber von seiner Eile zeugen die manchmal zum Ende hin abfallenden Zeilen. Er ging das Geschriebene nochmals durch und unterstrich für ihn Wichtiges mit rotem und blauem Buntstift, vielleicht um sich auf eine Prüfung vorzubereiten, überdies kommentierte er ab und an einzelne Stellen.

Das Mitschreiben war ein schöpferischer Prozess

Insofern ist das Mitschreiben durchaus schöpferisch. Setzt nicht Humboldts Idee der Forschungsgemeinschaft gerade diese aktive Rolle der Studierenden voraus? Bisweilen stellte sich der Student Blanck mit dem Professor sogar auf eine Ebene, wenn er die Geltung des Gesagten anzweifelte. Einmal etwa sprach Paulsen über das Abschätzen von Größen, und Blanck hielt in seinem Kollegheft die Worte des Professors fest, dass eine Steuer, die in mehreren Raten erhoben werde, drückender und größer erscheine, als wenn sie als einmalige Summe zu zahlen sei. Doch gleich daneben schrieb der Student in energischen Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen: „DIES BEZWEIFLE ICH!“

Seinerzeit erfuhr Paulsen vermutlich nichts von diesen Zweifeln, aber heute können wir die Schriften seines Studenten neben seine Werke legen. Paulsen lehrte zwischen 1877 und 1908 Philosophie und Pädagogik und nahm im Kaiserreich maßgeblich Einfluss auf die Entwicklung des preußischen Gymnasiums. Er begriff die Vorlesung in gewisser Weise als einen kreativen Prozess: Er lasse den Vortrag, so sagte er, oft erst in der Vorlesung im Eingehen auf die Zuhörenden und deren Fragen entstehen. Mit kleinen, eng beschriebenen Notizzetteln bereitete er seine Vorlesungen vor. Einige davon befinden sich heute im Archiv der Humboldt-Universität. Vor unseren Augen wird so die Diskussion von Professor und Student, ihr Ringen um wissenschaftliche Überzeugungen lebendig.

Kerrin Klinger ist Wissenschafts- und Bildungshistorikerin an der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung und Dozentin an der Humboldt-Universität.

"Wir mussten immer alles richtig finden"

Hiba Obaid
ist seit 2015 in Deutschland und hat ein Integrations-Volontariat bei „Alex Berlin“ absolviert. Sie nimmt am Tagesspiegel-Projekt #jetztschreibenwir teil und arbeitet in der Onlineredaktion von Deutschlandfunk Kultur

Ich bin in Syrien zur Schule und zur Universität gegangen, und da gab es das nicht: Zweifel. Man musste immer richtig finden, was die Lehrer sagten. Wenn ich dieses Kollegheft und den Satz „DIES BEZWEIFELE ICH!“ betrachte, denke ich an meine Kindheit und Jugend in Aleppo. In der Grundschule hatte ich eine Lehrerin, die alles unterrichtet hat – Mathematik, Sprache, Religion, alles. Sie hat die meiste Zeit auf Religion verwendet, weil das für sie das wichtigste Fach war. Da konnte man nicht fragen: Stimmt das überhaupt, was Sie da sagen?

Ich habe arabische Literatur studiert, weil ich mich für Sprache und Texte interessiere; die meisten Kommilitonen hatten das Fach gewählt, weil sie den Koran besser verstehen wollten. An der Universität gab es nur einen Professor, der neutral und ohne Religionsbezug über Literatur gesprochen hat. Aber offene Zweifel oder Kritik äußern konnte er auch nicht. Vor dem Krieg konnte man seine politische Meinung nicht zeigen, wir sollten alle dasselbe denken. Wir begannen zu zweifeln, als der Krieg anfing, weil die Medien nicht die Wahrheit darstellten. Als die Revolution begann, suchten viele von uns nach anderen Quellen der Wahrheit. Hier in Deutschland finde ich es gut, dass es eine Vielfalt der Medien mit vielen Meinungen gibt.

Protokoll: Dorothee Nolte

Silvia Radtke
studiert Europäische Ethnologie und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin

Ich habe mich im Rahmen eines Seminars zur Kulturgeschichte des Studierens mit dem Kollegheft von Friedrich Blanck beschäftigt. Es war für mich etwas ganz Besonderes, das physische Exemplar im Forschungslesesaal berühren zu dürfen, in ihm zu blättern und dabei seinen Geruch wahrzunehmen. Unweigerlich stellte ich mir vor, wie sein Verfasser ebenfalls davor saß, um seine Notizen anzufertigen. Im Vergleich zu mir – der mit Laptop (aber auch mit Bleistift und Blatt) ausgestatteten Studentin Anfang des 21. Jahrhunderts, die in einem klimatisierten Raum sitzt – dürften seine Arbeitsumstände weniger komfortabel gewesen sein. Mit meinen eigenen Unterlagen arbeite ich allerdings ganz ähnlich, wie auch er es mit den seinen getan haben wird.

Das Heft hat mich neugierig auf die Person Friedrich Blanck gemacht. Ich habe nicht viele Informationen über ihn finden können, aber offenbar ist er, ähnlich wie ich, in Berlin häufig umgezogen und stammte aus Mecklenburg. Am stärksten und von Beginn an hat mich aber seine Arbeitsweise fasziniert, da sie meiner ähnelt.

Infos und weitere Termine

Das Kollegheft mit dem Zitat „DIES BEZWEIFLE ICH!“ wird künftig im Humboldt Forum in der Ausstellung im ersten Obergeschoss zu sehen sein. Insgesamt 32 von Friedrich Blancks Vorlesungsbüchlein sind digitalisiert und über die Homepage der Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin öffentlich zugänglich.

Noch bis Mai 2019 stellt das Humboldt Forum weitere Highlight-Objekte vor, die die Vielfalt der künftigen Sammlungen widerspiegeln – in Gesprächen und einer Ausstellung auf der Museumsinsel und am Kulturforum.

Die nächsten Termine auf einen Blick:

GESPRÄCH IM MUSEUM
Vishnu, Zeus & Co
Donnerstag, 31. Januar 2019, 19.30 Uhr
Altes Museum, Bodestraße 1-3, 10178 Berlin

GESPRÄCH IM PODEWIL
Erlebt – Erzählt – Behauptet
Montag, 18. Februar 2019, 19.30 Uhr
Revolutionszentrum Podewil, Klosterstr. 68, 10179 Berlin

Die nächste Tagesspiegel-Seite zu den Highlights erscheint am 3. Januar 2019: Kazike der Quimbaya

Kerrin Klinger, Hiba Obaid, Silvia Radtke

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