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Große Themen, niedrige Schwelle: Hetty Berg in der neuen „Anoha“-Kinderwelt des Jüdischen Museums.

© Yves Sucksdorff

Hetty Berg über das Jüdische Museum Berlin: „Ein Ort für offene Diskussionen“

Hetty Berg, die neue Direktorin des Jüdischen Museums Berlin, spricht im Interview über die Debatten der jüngeren Vergangenheit und die Zukunft des Hauses.

Sie soll es richten. Hetty Berg, 1961 in Den Haag geboren, Theaterwissenschaftlerin und Kulturhistorikerin, leitet seit Anfang April das Jüdische Museum Berlin. Sie übernahm die Institution in doppelt schwieriger Zeit. Die frühere Chefkuratorin des Jüdischen Kulturviertels Amsterdam folgt auf Peter Schäfer, der das Haus 2019 nach einer konservativen Kampagne und auch politischem Ungeschick verließ. Wegen der Coronakrise und der Einrichtung des neuen Dauerausstellung ist das Jüdische Museum derzeit geschlossen.

Frau Berg, wie fühlen Sie sich als Neu-Berlinerin?
So hatte ich mir den Start natürlich nicht vorgestellt – meine neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter per Videokonferenz zu begrüßen. Ich vermisse die Besucher, das Leben im Haus, den persönlichen Austausch. Ich bin aber froh, dass ich noch mit dem Auto aus Amsterdam anreisen konnte, um die Stelle anzutreten. Ich kenne und liebe Berlin seit einem längeren Aufenthalt 2017. Schon da hatte ich mit dem Museum Kontakt, aber ich wäre nicht im Traum darauf gekommen, hier einmal Direktorin zu sein.

In Kürze sollte die neue Dauerausstellung eröffnen. Gibt es dafür jetzt einen Termin?
Leider noch nicht, wir arbeiten von Tag zu Tag mit aller Kraft daran, die neue Dauerausstellung fertigzustellen und das Museum bald wieder zu öffnen.

Ihr Kommen ist mit großen Erwartungen verbunden. Worin sehen Sie selbst die größten Aufgaben und Herausforderungen?
Was das Museum auszeichnen sollte, ist eine jüdische Perspektive – oder besser gesagt: jüdische Perspektiven, denn es gibt nicht nur die eine. Deshalb möchte ich den Kontakt zur jüdischen Gemeinde und den jüdischen Gemeinschaften in Berlin ausbauen. Das Museum ist aber ein Ort für alle Menschen, die sich für jüdisches Leben und jüdische Geschichte interessieren. Es ist ja immer auch eine gemeinsame Geschichte von Juden und Nicht-Juden. Ich möchte alle miteinbeziehen. Neben dem internationalen Publikum, das hoffentlich bald wieder in die Stadt kommt, will ich auch mehr Berlinerinnen und Berliner in unser Haus holen. Als eines der größten Jüdischen Museen Europas hat es in der deutschen Hauptstadt eine besondere, auch symbolische Bedeutung.

Ein Beispiel, wie Sie das im Museumsprogramm darstellen wollen?
Für eine künftige Ausstellung kann ich mir eine Figur wie James Simon gut vorstellen, den großen Berliner Mäzen, nach dem das neue Eingangsgebäude auf der Museumsinsel benannt ist. In der neuen Dauerausstellung wird es, das kann ich schon verraten, stärkere Berlin-Bezüge geben. Im Segment „Berlin-Berlin“ geht es darum, wie die Stadt im 18. und 19. Jahrhundert zu einem besonderen Ort für die jüdische Geschichte wurde. Warum hat sich das moderne Judentum hier erfunden und erprobt?

Sie denken an Moses Mendelssohn oder den Komponisten Giacomo Meyerbeer?
Ja, wobei wir nicht nur Männer, sondern auch Frauen als prägende Persönlichkeiten präsentieren, zum Beispiel Henriette Herz und ihren Salon.

Die Ausstellung wird dann doch stark historisch geprägt sein?
Das Museum spielt eine wichtige gesellschaftliche Rolle. Es muss sich mit Fragen von Ausgrenzung, Zugehörigkeit, Diversität und Identität beschäftigen. In der Dauerausstellung zeigen wir die Beziehungen von Juden zu ihrer nichtjüdischen Umwelt; das sind historisch wichtige Themen und drängende Fragen von heute.

Die Schriftstellerin Henriette Herz, hier gemalt 1792 von Anton Graff, bereicherte mit ihrem Salon das jüdische Kulturleben Berlins in der Frühromantik.
Die Schriftstellerin Henriette Herz, hier gemalt 1792 von Anton Graff, bereicherte mit ihrem Salon das jüdische Kulturleben Berlins in der Frühromantik.

© Wikimedia

Solche Themen hatte Ihr Vorgänger Peter Schäfer auch im Auge. Für die am Alltag orientierte Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ wurde er heftig kritisiert. Wie wollen Sie politischen Einfluss aus dem Jüdischen Museum heraushalten?
Museumsarbeit ist immer politisch, aber nicht tagespolitisch. Der Reichtum und die Lebendigkeit jüdischer Kultur bestimmen unser Programm – dabei geht es natürlich auch um jüdische Perspektiven auf zeitgenössische Fragen. Das Jüdische Museum Berlin steht in diesem Spannungsfeld: einerseits die jüdische Kultur und Geschichte in Deutschland zu vermitteln, andererseits sich mit Fragen der Gegenwart zu beschäftigen. Ein zentrales Thema ist das Zusammenleben vieler unterschiedlicher Gruppen in unserer Gesellschaft, wobei sich gerade das jüdische Leben in Berlin in einem starken Wandel befindet.

Das Museum wurde aus jüdischen Kreisen in Berlin attackiert, auch von der Regierung Netanjahu in Israel. Wie wollen Sie sich vor Übergriffsversuchen schützen?
Das Haus wird als Bundesmuseum vom deutschen Staat getragen, aber es agiert als Kulturinstitution unabhängig. In Zeiten immer stärkerer Polarisierung muss es ein Ort bleiben, an dem wir offen und fundiert diskutieren können. Wenn man sieht, wie sich in Ungarn und Polen zum Beispiel die Regierungen in das kulturelle und wissenschaftliche Leben einmischen, dann kann Deutschland ein Vorbild der Freiheit und Unabhängigkeit sein. Ich vertraue darauf, dass das so bleibt.

Wo liegen Ihre Grenzen? Würden Sie mit BDS-Vertretern diskutieren?
Ich habe mich dazu bereits geäußert. Eine Debatte ist für mich nur sinnvoll, wenn man sich mit Respekt und Offenheit begegnet. Das bedeutet auch, dass niemand ausgegrenzt wird – wie es der BDS fordert. Den Aktivisten geht es nicht allein um einen Boykott des Staates Israel, sondern auch um einen Boykott israelischer Künstler und Wissenschaftler. Das hat mit einer offenen Debatte nichts zu tun.

Welches Thema brennt Ihnen für das Jüdische Museum gerade unter den Nägeln?
Ich möchte erst einmal mein neues Team richtig kennenlernen, bevor wir gemeinsam zu planen beginnen. Natürlich habe ich schon Ideen: Für eine kulturhistorische Ausstellung fände ich das Thema „Judentum und Sexualität“ spannend. Da gibt es viele ethische, religiöse und auch gesundheitliche Dimensionen. Es ist ein sehr vielschichtiges Thema, das bis hin zu den heutigen Jewish Dating Apps reicht. Ich finde es bei einer Ausstellung reizvoll, wenn sich jüdische Themen zu universellen Fragen öffnen. Sexualität ist ein Thema, das alle Menschen betrifft.

Werden Sie enger mit den anderen Berliner Museen zusammenarbeiten?
Ich komme aus den Niederlanden, da gehört Kooperation und Teamarbeit einfach dazu. Die Museumsarbeit braucht Austausch. Es gibt ja jetzt mehrere niederländische Museumsdirektoren in Berlin und in Deutschland. Ich freue mich also auch auf die Zusammenarbeit mit Paul Spies, dem Direktor des Stadtmuseums Berlin, den ich aus Amsterdam gut kenne. Unsere neue Kinderwelt „Anoha“ ist in Zusammenarbeit mit Schulen und Kindern aus dem Kiez entstanden, es gab und gibt viel Partizipation mit der Zielgruppe selbst.

Was ist der pädagogische Ansatz?
Mit „Anoha“ schaffen wir in der ehemaligen Blumengroßmarkthalle einen neuen Ort zum Erforschen und Spielen für Kinder zwischen drei und zehn Jahren. Ausgangspunkt ist die Erzählung der Arche Noah aus der Tora, die auch im Christentum und Islam eine Rolle spielt. In vielen Kulturen gibt es ähnliche Flutgeschichten. Wir regen Kinder an, sie in ihre eigene Lebenswelt zu übersetzen: Wie gehen wir mit unserer Umwelt, mit unseren Mitmenschen und mit der Natur um? Was bedeutet Nachhaltigkeit? Für Familien und Kinder gibt es viel zu entdecken – vor allem auch sehr viel Spaß!

Haben niederländische Museumsleute ein Know-how, das den Deutschen abgeht?
Der gute Ruf der niederländischen Museumswelt hängt sicher damit zusammen, wie dort Besucherinnen und Besucher angesprochen werden. Wir haben einen niedrigschwelligen Ansatz und flache Hierarchien in der Führungskultur.
Das Gespräch führten Nicola Kuhn und Rüdiger Schaper.

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