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Svetlana Alexijewitsch (links), Moderator Jens Bisky und Herta Müller auf der Bühne des Gorki Theaters in Berlin

© privat

Herta Müller und Svetlana Alexijewitsch: "Literatur darf sich nie einem System fügen"

Wahrheit durch Sprache: Ein Gespräch der Literaturnobelpreisträgerinnen Herta Müller und Svetlana Alexijewitsch im Berliner Maxim Gorki Theater.

Die Gelegenheit, zwei Literaturnobelpreisträgerinnen gemeinsam auf einer Bühne zu sehen, gibt es nicht häufig, zumal es bislang nicht viele Frauen waren, die mit diesem immer noch bedeutendsten aller Literaturpreise ausgezeichnet worden sind.

Vermutlich wäre da ohne die Pandemie selbst das Haus der Berliner Festspiele für den Auftritt von Herta Müller und Svetlana Alexijewitsch im Rahmen des „Re:Writing the Future“-Festivals zu klein gewesen.

So saßen die Literaturnobelpreisträgerinnen der Jahre 2009 (Müller) und 2015 (Alexijewitsch) aus den bekannten Gründen ohne Publikum auf der Bühne des Gorki Theaters, um über kulturelle Resilienz zu sprechen, über ihre Erfahrungen mit Diktaturen und dem Schreiben im Exil.

Natürlich hätte es sich angeboten, sofort die Lage in Belarus in den Blick zu nehmen, auch die in Russland nach der Rückkehr und sofortigen Inhaftierung und Verurteilung des Putin-Kritikers Alexej Nawalny. Trotzdem begann der Moderator Jens Bisky klugerweise damit, die Schriftstellerinnen nach den Landschaften ihrer Kindheit zu befragen.

Schrecken und Schönheit lagen dicht beieinander

Zum einen weil das der Humus ist, auf dem beider ihrer Werke erst gedeihen konnten, zum zweiten weil die Vergangenheit, wie Alexijewitsch und Müller später herausarbeiten, nie ruht, sie immer wieder, wie die Ereignisse in Belarus beweisen, zurückkehrt.

Alexijewitsch, die 1948 in Iwano-Frankiwsk als Tochter einer ukrainischen Lehrerin und eines weißrussischen Schuldirektors geboren wurde, spricht davon, wie in ihrer Kindheit Schönheit und Schrecken stets eng beieinander lagen: Wie wunderbar einerseits die Landschaft war, sie andererseits immer wieder den Kriegsversehrten auf den Straßen begegnete und auch noch die Überreste der Leichen deutscher und russischer Soldaten auf den Feldern sehen musste.

Und sie spricht von den Frauen, mit denen sie oft „auf den Bänken“ saß, Frauen, die von der Arbeit extrem ausgelaugt waren, aber trotzdem schöne Geschichten über die Liebe erzählen konnten: „Ich wollte eine Literatur schaffen, die so war wie das Leben der Frauen auf diesen Bänken.“

Herta Müller wiederum berichtet von ihrem Dorf im Banat, Nitzkydorf, in dem sie 1953 geboren wurde. Hier gab es viele Deutsche, während in anderen Dörfern der Umgebung Ungarn oder Slowaken die vorherrschenden Minoritäten waren.

Sie erzählt von ihrer Mutter, die fünf Jahre im Lager war und für die Taten ihres Mannes büßen musste, der bei der SS war, so wie überhaupt alle aus ihrem Dorf, so Müller bei Wehrmacht, SS oder in der mit den Nazis verbündeten rumänischen Armee waren.

"Die Politiker sind besorgt, die Geschäfte gehen weiter"

Und sie selbst als Kind? „Ich war oft in den Maisfeldern, musste Kühe hüten, musste viel arbeiten und war als Einzelkind auf mich zurückgeworfen.“

Müller erzählt dann, wie die Großmutter ihre große Bibliothek „im Backofen“ aus Angst vor den Russen verbrannt hat, wie sie letztendlich ohne Bücher aufwuchs und die Bücher, die es gab, stalinistische Schulbücher wie „Der allmächtige Igel“ als Topfuntersetzer benutzt wurden.

Erst als sie das Dorf verließ, nach Temesvar ging und zu der „Aktionsgruppe Banat“ stieß, kam sie mit der Literatur in Berührung, „ich hatte aber zunächst gar nicht vor zu schreiben!“, mit den frühen Sachen von Peter Handke, mit Thomas Bernhard, der für sie genau das beschrieb, was sie mit ihren Erfahrungen in Nitzkydorf abgleichen konnte.

Bei Alexijewitsch war das wegen ihrer Herkunft aus einem gebildeten Haushalt anders, „in unserem Haus gab es nur Bücher“. Dass Menschen sehr kompliziert sind, habe sie zuerst aus der Lektüre der Bücher von Dostojewski erfahren.

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Behutsam geleitet Bisky die beiden dann über die gesellschaftliche und politische Wende 1989 in die Gegenwart. Alexijewitsch will sich mit ihren Erinnerungen an 1989 gar nicht lange aufhalten, sondern kommt schnell auf die Entwicklungen in Belarus zu sprechen, auf die monatelangen, inzwischen doch erlahmenden Proteste gegen das Lukaschenka-Regime, die von diesem Woche für Woche brutal niedergeknüppelt werden.

Es wirkt ein wenig resigniert, als Alexijewitsch mit der Traurigkeit in ihren Gesichtszügen davon spricht, „dass wir vielleicht zu naiv“ gewesen seien und eine Revolution mit „Luftballons und Blümchen“ nicht ausreiche: „So ein kleines Land schafft es nicht aus eigener Kraft. Wir haben der Welt es nicht deutlich genug gemacht, dass Belarus nicht geholfen werden kann, solange es unter dem Schutz Putins steht.“

Alexijewitsch und Müller erläutern dann, dass eine Diktatur die Menschen zermürbe, dass in den Gefängnissen von Belarus gefoltert werde, Denunziationen gang und gäbe seien. „Wie schnell die Stalin-Maschinerie wieder zurückgekehrt ist“, beklagt die weißrussische Schriftstellerin und antwortet auf die Frage, ob Europa sich genug für ihre Heimat eingesetzt habe:„Die Politiker sind besorgt, die Geschäfte gehen weiter.“

"Literatur behütet, ohne zu lügen"

Und die Literatur, wieviel Macht hat sie? Alexijewitsch, die im Koordinierungsrat der Proteste in Belarus gesessen hat und sich aus gesundheitlichen Gründen und sicher auch zu ihrer Sicherheit in Berlin aufhält, äußert sich dazu nicht weiter; ein wenig zögerlich bejaht sie die Frage, ob sie an einer Fortsetzung ihres Reportage- und dokumentarischen Romans „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ arbeite.

Herta Müller weiß natürlich auch um die realpolitische Machtlosigkeit von Literatur, dass sie vordergründig nichts gegen Panzer und Waffen ausrichten kann. Und doch erklärt sie schließlich, wie wichtig Literatur ist. Da ringt sie spürbar mit den Formulierungen, die sie viel besser schreibt als dass sie aus dem Stegreif sprechen kann: „Literatur behütet, ohne zu lügen, Literatur darf sich nie einem System fügen. Und: Sie muss trösten, ohne zu täuschen.“

Noch eindrucksvoller hat sie es seinerzeit in ihrer Nobelpreisrede auf den Punkt gebracht: „Literatur kann - und sei es im Nachhinein - durch Sprache eine Wahrheit erfinden, die zeigt, was in und um uns herum passiert, wenn die Werte entgleisen.“ Schreiben, das hatte Herta Müller an diesem Abend gesagt, sei bei ihr schon auch eine „Notwehr“ gewesen, eine wirksame überdies. Und dass die Bücher von Svetlana Alexijewitsch viel Macht hatten, belegt allein, dass sie in der Sowjetunion bis zur Ära Gorbatschows und später unter Lukaschenka verboten waren.

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