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Herta Müller wurde 2009 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

© dpa

Herta Müller: Denk nicht dorthin, wo du nicht sollst

Lieder können glücklich machen und Leid bringen. Und Großmutter verjagt durch ihr Singen die Wölfe. Sehr persönliche Erinnerungen an eine Kindheit in Rumänien.

"Wie heißen die Zugvögel", fragte die Lehrerin. Nein, sie fragte: "Wie heißen UNSERE Zugvögel" - sie sollten unserem kleinen Dorf gehören, sogar denen, die hier wohnten, in diesem abgelegenen Dorf ohne Asphaltstraße. Sie brauchten ja nur den Luftweg und konnten - anders als wir alle - auch wieder weg von hier, wenn es später wurde im Jahr. Auf die Frage, wie UNSERE Zugvögel heißen, antworteten alle im Chor singend: "Amsel, Drossel, Fink und Star." Im Lied "Alle Vögel sind schon da" war die Antwort fertig. Und jeder konnte sich dieses Lied, also auch die Namen der Zugvögel merken. Und jedes Jahr wieder konstatierte derselbe Schüler gleich nach dem Singen, dass die Schwalbe in der Aufzählung fehle. Und die Lehrerin sagte jedes Jahr wieder, die Schwalbe sei auch da, es heiße doch: "Und die ganze Vogelschar. Das hab ich dir letztes Jahr schon gesagt."

Das kleine Lied von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben gehörte zum Dorf. Keines der Kinder wäre auf den Gedanken gekommen, dass ein Erwachsener es weit von hier und vor langer Zeit gedichtet hat. Die Großmütter kannten es, die Mütter und Tanten. In der Verbreitung war es alt, in der Begeisterung neu.

Es war einem beim Singen, als hätte die Umgebung selbst im Verlauf aller Kindheiten aller Bewohner dies Lied hervorgebracht, so wie sie jedes Jahr das Frühjahr hervorbrachte. Warum nicht, der Wind konnte singen. Er sang immer anders: leer als fliegende Luft oder in den Baumkronen. Anders im Maisfeld als im Tabak- oder Getreidefeld. Und der Regen sang ganz anders, denn er war nicht aus Luft, sondern aus Glasschnüren.

Das Lied war also noch mehr als Volksdichtung des kleinen Dorfes. So wie Wind und Regen sich ihr Lied machten, war auch "Alle Vögel sind schon da". Von der Umgebung selbst gemacht und von uns nachgesungen.

Wie viele Kinder mögen es wohl sein, die Namen von Zugvögeln durch dieses Lied kennenlernten. Fallersleben hat für unzählige Generationen von Kindern die ersten Gefühle formuliert, ihnen Worte gegeben, die sich in der Umgebung umsehen: die zart geschnittene, für Kinder zumutbare, Neugierde weckende, allererste Sozialisation. Ein anderes Liedchen sang man genauso oft. Aber nicht so leicht, denn es machte nachdenklich: Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm Es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um Sagt, wer mag das Männlein sein Das da steht im Wald allein Mit dem purpurroten Mäntelein Im Chor machte es bloß ein bisschen nachdenklich. Die Tristesse kam nicht auf, weil niemand einsam war, wenn alle zusammen sangen. Dieses leise, getragene Lied wurde viel schöner, wenn man es für sich allein sang. Das Lied ist fragend, also unsicher. Und es gibt keine Antwort. Es hält mit sich selbst auch den Mund, der es singt, in der Schwebe. Es steigt einem ein dunkler Geschmack in den Gaumen. Wenn man es zu Ende gesungen hat, wirkt es nach und macht Platz für die eigene Einsamkeit aller Art - und sei diese auch nur die Angst vor der viel zu großen Landschaft eines Flusstals. Ich habe das "Männlein im Walde" für mich allein im Tal gesungen. Es gibt der sogenannten grundlosen Angst recht, dieser Unsicherheit vor unserem schieren, immer unerklärlichen Vorhandensein auf der Welt. Es sozialisiert die Schattenseite in uns, gibt der Einsamkeit eine Selbstverständlichkeit an die Hand - und zwar die gleiche, die man von der Sorglosigkeit oder Freude kennt. Es legitimiert Trauer.

Gerade als Kind muss man Trauer ertragen und einordnen lernen. Gerade als Kind, weil nichts, aber auch gar nichts um einen herum fertig ist, und man selbst am allerwenigsten. Kindheit ist wahrscheinlich der verworrenste Teil des Lebens. Es wird in daumenkleinen Details, die wir später mit einem glatten zweisilbigen Wort KINDHEIT nennen, so viel gleichzeitig aufgebaut und abgerissen wie später nie wieder.

Unter einem "Männlein im Walde" habe ich mir nie einen Pilz - oder gar eine Hagebutte - vorstellen können. Es war immer ein Mensch, ein Feld- oder Waldhüter, ein Nachtwächter. Auch was PURPUR bedeutet, wusste ich nicht. Kirsch- oder Apfelrot, Fleischrot, Blutrot - das gab es - Rosenrot. Und am Himmel Abendrot. Damit war alles Rote beschrieben. Und es gab PUR als reines Getränk im Wirtshaus - Wein PUR, wenn die Männer keinen "Gespritzten" haben wollten. Und Schnaps war sowieso PUR, wenn er nicht mit Zucker oder chemischen Farben gepanscht war. Deshalb hatte das Männlein im Walde einen PUR roten Mantel, an dem außer Rot keine andere Farbe war. Wahrscheinlich waren auch die Knöpfe und das Futter rot. Außerdem hatte das Männlein den Mantel nicht AN, sondern UM - was für mich die Umgebung war, Mohn im Getreide oder das Abendrot am Himmel.

Aus dem wörtlichen Nichtverstehen oder Falschverstehen kam wie so oft bei Kindern der schöne poetische Schrecken ins Lied: ein Wächter allein mit der Unheimlichkeit der heranrückenden Nacht. Beim Kühehüten im Tal sah ich ja jeden Abend, wie sich der Himmel rötet und herunterkommt und das Gras frisst, wenn es dunkel wird, bis er den Tag geschluckt hat. Dann war alles leer gefressen und schwarz.

Ich wusste, dass ich auch gefressen werde, wenn ich nicht kurz davor ins Dorf komme, zu den gelben Glühbirnen auf der Hauptstraße, die um sich herum einen Tageskreis fressen konnten. Das Eigenartige am Singen ist, dass man, ohne zu sprechen und ohne zu weinen, ins Fertige klagen kann. Deshalb war das "Männlein im Walde" gut fürs Singen im Tal. Und mir war, als würde gar nicht ich singen, sondern das Tal den Zustand des Männleins, der auch meiner war. Und warum? Damit ich weiß, dass nicht nur ich allein in diesem Tal bin. Vielleicht kann man die Einbildung, dass man mit jemandem in gleicher Aussichtslosigkeit zusammen ist, TROST nennen. Dieses Wort kannte ich, brauchte es aber nicht, weil ich getröstet war und mir den Trost womöglich verdorben hätte, wenn das Wort aufgetaucht wäre.

Viele Jahre später habe ich in Jorge Sempruns Buch "Schreiben oder Leben" ein Kapitel gelesen, in dem Semprun sich einem im Sterben Liegenden im Krankenbau des KZ Buchenwald zuwendet. Der Sterbende summt, wie ihm scheint, ein Lied.

Und Sempruns Gedanken gehen zu einem anderen Singenden zurück, zu "La Paloma". Ihm fällt der Anfang des Liedes ein, und er fällt ihm auf Deutsch ein.

KOMMT EINE WEISSE TAUBE ZU DIR GEFLOGEN ...

Er murmelt diesen Anfang, und er erinnert sich an eine Geschichte.

"Der Deutsche war jung, er war groß, er war blond. Er entsprach voll und ganz der Idee des Deutschen. Es war vor anderthalb Jahren, 1943. Im Herbst, in der Gegend von Semur-en-Auxoise. An einer Biegung des Flusses gab es eine Art Wehr, das Wasser staute. An dieser Stelle war die Wasseroberfläche nahezu regungslos: flüssiger Spiegel unter der Herbstsonne. Der Schatten der Bäume bebte über diesem durchscheinenden Zinnspiegel.

Der Deutsche war auf der Uferböschung aufgetaucht, auf einem Motorrad. Der Motor seiner Maschine schnurrte leise. Er hatte den Pfad eingeschlagen, der zum Wasser hinunterführte. Wir warteten auf ihn, Julien und ich.

Das heißt, wir warteten nicht unbedingt auf diesen Deutschen. Auf diesen blonden, blauäugigen Knaben. (Achtung: ich phantasiere. Ich habe in diesem Augenblick die Farbe seiner Augen nicht sehen können. Erst später, als er tot war.) Wir warteten auf einen Deutschen, auf Deutsche. Irgendwelche. Wir wussten, dass die Soldaten der Wehrmacht es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, gruppenweise an diesen Ort zu kommen, spätnachmittags, um sich zu erfrischen. Wir, Julien und ich, waren gekommen, um das Gelände zu erkunden, herauszufinden, ob es möglich wäre, einen Hinterhalt zu legen. Aber dieser Deutsche schien allein zu sein. Kein weiteres Motorrad, kein weiteres Fahrzeug war nach ihm auf dem Pfad aufgetaucht. Allerdings war es auch nicht die gewohnte Uhrzeit. Es war gegen Mitte des Vormittags.

Er ist bis zum Ufer gefahren, ist von seiner Maschine gestiegen, hat sie aufgebockt. Stehend die Süße Frankreichs einatmend, hat er den Kragen seiner Jacke geöffnet. Er war sichtlich entspannt. Aber er war auf der Hut: Seine Maschinenpistole hing ihm quer über der Brust, an dem Riemen, den er um seinen Hals gelegt hatte.

Julien und ich haben uns angesehen. Wir waren auf denselben Gedanken gekommen.

Der Deutsche war allein, wir hatten unsere beiden Smith-and-Wesson. Die Entfernung zwischen uns und dem Deutschen war gut, er befand sich in Reichweite unserer Waffen. Ein Motorrad ließ sich erbeuten, eine Maschinenpistole.

Wir waren gedeckt auf der Lauer: Er war eine perfekte Zielscheibe. Wir waren also auf denselben Gedanken gekommen, Julien und ich. Aber plötzlich hat der junge deutsche Soldat die Augen zum Himmel gehoben und hat zu singen angefangen.

KOMMT EINE WEISSE TAUBE ZU DIR GEFLOGEN ...

Da bin ich zusammengezuckt, fast hätte ich ein Geräusch gemacht. Wäre mit dem Lauf der Smith-and-Wesson an den Felsen gestoßen, der uns Deckung gab. Julien hat mir einen vernichtenden Blick zugeworfen.

Die Kindheit, die Dienstmädchen, die bei der Arbeit singen, die Melodien der Konzertpavillons in den schattigen Anlagen der Sommerfrischen, LA PALOMA! Wie hätte ich nicht zusammenzucken sollen, als ich dieses Lied hörte?

Meine Hand hatte zu zittern begonnen. Es war mir unmöglich geworden, auf diesen jungen Soldaten zu schießen, der LA PALOMA sang. Als ob die Tatsache, dass er diese Melodie aus meiner Kindheit, diesen nostalgischen Schlager sang, ihn mit einem Mal unschuldig machte. Nicht persönlich unschuldig, vielleicht war er es ohnehin, auch wenn er nie LA PALOMA gesungen hätte.

Vielleicht hatte er sich nichts vorzuwerfen, dieser junge Soldat, nichts anderes, als dass er zur Zeit Adolf Hitlers als Deutscher geboren worden war. Unschuldig nicht nur, als Deutscher geboren zu sein, unter Hitler zu einer Besatzungsarmee zu gehören, unfreiwillig die brutale Stärke des Faschismus zu verkörpern. Dem Wesen nach unschuldig geworden also, in der Fülle seines Daseins, weil er LA PALOMA sang.

Es war absurd, ich wusste es genau. Aber ich war außerstande, auf diesen jungen Deutschen zu schießen, der mit unverhülltem Gesicht LA PALOMA sang, in der Reinheit eines Herbstmorgens, im Herzen der tiefen Sanftmut einer Landschaft Frankreichs.

Ich habe den langen, mennigrot angestrichenen Lauf der Smith-and-Wesson gesenkt. Julien hat es gesehen, auch er hat den Arm wieder gebeugt. Er beobachtet mich mit besorgter Miene, wahrscheinlich fragt er sich, was in mich gefahren ist. In mich gefahren ist LA PALOMA, die spanische Kindheit, mitten ins Gesicht.

Aber der junge Soldat hat sich umgedreht, er geht mit kleinen Schritten zu seinem Motorrad zurück, das auf seinem Ständer steht.

Da packe ich meine Waffe mit beiden Händen. Ich ziele auf den Rücken des Deutschen, ich drücke auf den Abzug der Smith-and-Wesson. Ich höre neben mir die Schüsse aus dem Revolver von Julien, der ebenfalls mehrmals abgedrückt hat.

Der deutsche Soldat macht einen Satz nach vorn, als wäre er heftig in den Rücken gestoßen worden. Weil er tatsächlich in den Rücken gestoßen worden ist, von dem brutalen Aufprall der Geschosse. Er fällt der Länge nach hin."

Bis hierher geht es um den Deutschen. Dann schreibt Semprun über sich selbst.

"Ich sinke zu Boden, das Gesicht im frischen Gras, wütend hämmere ich mit der Faust auf den flachen Felsen, der uns schützte. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Ich schreie immer lauter, Julien bekommt es mit der Angst. Er schüttelt mich, brüllt, dass jetzt nicht der Moment sei, einen Nervenanfall zu kriegen: Wir müssen verduften. Das Motorrad, das Maschinengewehr des Deutschen an uns nehmen und verduften. Er hat recht, es gibt nichts anderes zu tun.

Julien nimmt die Maschinenpistole des Toten, nachdem er ihn umgedreht hat. Und es stimmt, er hat blaue Augen, weit aufgerissen vor Verwunderung." So weit Semprun.

Vielleicht haben Lieder ein größeres Erinnerungsvolumen als der Kopf. Sie nehmen sich beim Singen schleichend der ganzen einzelnen Person an. Lieder machen sich zur persönlichen Parabel. Das fertig Formulierte wächst zur eigenen Gegenwart. Diese Wirkung ist konkret, nistet sich präzis in einen deutlich erkennbaren Augenblick des Lebens. Wie, weiß man nicht. Der Vorgang ist Überrumpelung, aber schleichend, also abstrakt. Plötzlich ist man in die Erinnerung katapultiert. Musik bewahrt wie nichts sonst Gefühle auf. Überall auf der Welt, zu allen Zeiten hängen Emigranten ein Leben lang der Musik und dem Essen von zu Hause nach. Denn beides, Singen und Kochen, geht übers Gemüt, nicht übern Verstand.

Das wissen auch Diktatoren. Musik wurde immer von ihnen genutzt, um den Einzelnen in Besitz zu nehmen. Wir Deutsche kennen die vom Nationalsozialismus hinterlassene Ödnis. Lieder, die man bis heute nicht mehr singen kann, weil sie kontaminiert sind. Sie wurden planmäßig eingebaut in Hitlers Raub und Mord, mitgenommen ins Verbrechen der Soldaten. Auch zarte Lieder haben im Krieg gedient, sind in ihrer Zartheit so ins Verbrechen verstrickt wie die Soldaten selbst. Und für die mittlerweile gealterten Kriegskameraden der Wehrmacht und der SS waren sie 40 Jahre später, und im tiefsten Sozialismus und im abgelegensten Kaff, immer noch Balsam für die Erinnerung.

Manches hatten die Kriegskameraden eingesehen, hie und da sogar ein bisschen was korrigiert, vieles hatten sie sich abgewöhnt, aber nie ihre Lieder von damals. Kein Dorffest ging ohne diese Kriegslieder zu Ende. Und die Erinnerung machte keinen Unterschied zwischen dem zarten "Am Brunnen vor dem Tore" und dem eroberungsberauschten "Wir fahren gegen Engeland". Beide Lieder hatten dieselbe Funktion: Beschwörung des Krieges als Jugendzeit. Entkleidet von allen politischen Inhalten werden Lieder bemüht und dienen. Auch wenn im Verstand die Distanzierung eingetreten ist, verklären sie das Gefühl und machen Menschen weiterhin zutraulich.

Nostalgien berufen sich oft auf die Lieder, die die Geschichte begleitet haben. Nicht nur bei den Tätern, den Opfern geht es nicht anders - auch sie behalten die Lieder des Elends von damals fürs ganze Leben. Ich weiß von Oskar Pastior, auch Lagerleute bleiben im Singen der Lagerlieder dem "Nullpunkt der Existenz" zutraulich verbunden. Aus seiner lebenslangen Beschädigung musste ich schließen, dass Grundverletzungen all die Jahre später nur ausgehalten werden können, weil sich der Schrecken des Erlebten mit der Sehnsucht danach verbandelt. Diese Paarung von präzis und abstrakt. Der Gebrauch dieser Verschmelzung ist instinktiv, unfreiwillig gegen jedes bessere Wissen. Er passiert einem. Und man geniert sich vor sich selbst. Weil man den Gebrauch zulassen muss, hat man ihn verursacht - wenn auch ohne Wahl. Und weil man weiß, dass man dadurch die Kategorien der eigenen Werteskala durcheinanderbringt. Was der Kopf denkt, wird im Singen ignoriert.

Das Singen im Extremfall habe ich auch erlebt: Ich war vielleicht sieben Jahre alt und fuhr mit den Großeltern mit dem Fiaker in ein anderes Dorf zum Bruder meines Großvaters. Es waren die ersten wärmeren Tage, der Schnee war weg. Aber auf dem Weg fing es wild an zu schneien. Wir wickelten uns in Decken und Großmutter spannte den Regenschirm auf. Wir kamen durch den Akazienwald, der Fiaker blieb in der weichen Erde stecken. Wir stiegen ab, zerrten und schoben, halfen dem Pferd. Da heulte es nah im Wald und wir sahen das Rudel, acht Wölfe. Und sie kamen auf uns zu, immer näher, ganz nah verlangsamten sie den Schritt. Sie brachten sich in Stellung für den Angriff. Mein Großvater hob mich auf den Fiakersitz und meine Großmutter nahm den schwarzen Regenschirm. Sie spannte ihn auf, fing an zu singen: Heißa, Kathreinerle, schnür dir die Schuh! Schürz dir dein Röckele, gönn dir kein Ruh! Didl, dudl, dadl, schrumm, schrumm, schrumm, Geht schon der Hopser um: Heißa, Kathreinerle, frisch immerzu!

Sie sang das Lied rauh, mit abgehackten Silben, hielt den Schirm vor sich, zuckte damit bei jeder Silbe, ging im Takt kleiner präziser Schritte auf die Wölfe zu. Ich sah den eisigen Atem über ihren Wachsnasen und ihr Maul innen blasslila wie dampfende Magnolien. Die Präzision ihrer Augen und ihrer Pfoten im Halbkreis. Und im Abendwerden das nackte Baumgerippe. Alles zusammen kam es mir vor wie das Ende des Lebens.

Ich zog mir die Decke über den Kopf und dachte an die Großmutter vom Rotkäppchen, die von einem Wolf gefressen wurde. Und hier waren acht Wölfe. Ich hatte gelernt, dass sich die Erde immer dreht. Ich hoffte, dass sie jetzt die Wölfe von uns wegdreht. Meine Großmutter sang ihr Kathreinerle-Lied noch mal und noch mal. Dann spürte ich sie neben mir auf dem Sitz. Die Erde hatte die Wölfe wirklich von uns weggedreht, sie zogen ab. Waren sie musikalisch, ziemlich lange haben sie zugehört? Wollten sie keine singende Beute fressen?

Später ging ich in Temeswar aufs Gymnasium. Die ersten anderthalb Jahre in der Stadt war ich ein hilfloses fünfzehnjähriges Dorfgewächs. Heimweh trieb mich an den Bahnhof. Wenn ich an den Wochenenden nach Hause kam und im Dorf die Blasmusik hörte, die ich so hasste, schwelte im klaren Überdruss ein Verlangen, das mich beschämte. Eine verkorkste Rückkehr wider besseres Wissen und gegen den Verstand. Und sobald ich das Dorf montags in aller Früh wieder Richtung Stadt verließ, in den Zug einstieg, stieg das Verlangen nach Blechmusik aus mir aus und gruselte mich.

Bei politischen Haltungen gab es nie ein Gezerre in mir, die Entscheidung war sofort unverrückbar da. Doch bei privaten Angelegenheiten, also Gefühlssachen, drehte das Gemüt mir oft alles um, was im Kopf längst geklärt war. Da kam nie der Schnitt zustande, immer nur der langsame Riss. Im Erinnern ist ja nichts Reales außen, sondern im Kopf. Die Gefühle rekonstruieren Vergangenes. Selbst der politische Alltag von damals, die Verfolgung, auch Namen, Daten und Zahlen werden zur Gefühlsangelegenheit. Und zwar umso mehr, je mehr jemand beschädigt ist. Es sind ja die Nerven, es wirkt sich psychisch aus. Um mich zu schützen, muss ich mich, so wie seinerzeit von der Blasmusik, von der Erinnerung drangsalieren lassen.

Beschädigungen, das muss man sich eingestehen, sind und bleiben Bindungen - notwendig, ungestüm und gnadenlos. Ich glaube, das gilt allgemein. Ob man aus der Bindung zu den Eltern abgesprungen oder der Verfolgung eines Landes entkommen ist, es bleibt in beidem eine irrationale Sehnsucht, obwohl man zu diesen Eltern oder in dieses Land nie mehr zurückkehren will. Dieser Phantomschmerz im Erinnern hat das betörende Zeug, das keine Ruhe gibt. Das manchen Beschädigten, wie wir wissen, tödlich ins Vergangene zerrt, in den Suizid.

Wahrscheinlich hat Hoffmann von Fallersleben in diesem Zwiespalt gelebt, seinen politisch aufrüttelnden Texten - der Staatseite des Lebens mit der Privatseite der Kinderlieder Halt gegeben. Auch der Sozialismus hat unendlich viel auf der Seele seiner Untertanen herumgegeigt. Mehr als alle anderen Kunstgattungen wurde die Musik als Herrschaftsinstrument in Dienst genommen: Kinderlieder für das Diktatorenehepaar und die Partei, Schlager übers neue Wasserkraftwerk oder die Stahlindustrie, Volkslieder über die glückliche Landwirtschaft. Dümmlich bis zur Peinlichkeit, brachial in der Heuchelei. Abstieg in Text und Melodie bis zur Verwahrlosung aller künstlerischen Kriterien.

Was man nur purpurrot vor Scham hätte sagen können, konnte man patriotisch singen, und wie Treibholz mit den Füßen in die Wellen der Melodik marschieren. Das singende Proletariat und die abwesend winkenden, streichholzkleinen Parteibonzen auf der hohen Tribüne. Am 1. Mai war es meist noch kühl, und sie hatten das eigene Mäntlein an, das graue, vor Steifheit viereckige Mäntlein der sozialistischen Konfektionsfabrik. Und das gemeinsame sozialistische purpurrote Mäntlein, die Fahnentuchverpackung der Tribüne hatten sie um. Auch die Vorbeiziehenden mit ihren Fahnen waren ihr Mäntlein. Die scheppernde oder jaulende Auftragsmusik war obszön. Die Schlagersänger von damals, egal ob jung oder alt, dick oder dünn, alle kamen einem vor, als wären sie von den Fußspitzen bis zum Scheitel mit Speichel abgeleckt. Im Speichel der Macht war nicht nur, was sie sangen, sondern auch ihre ganze Person widerlich. Es gab aber nur sie. Ceausescu hatte "Preis dir Rumänien" als einzige Inspirationsquelle verordnet. Gleichzeitig die authentische Volksmusik, die wahrhaft gute Lyrik ist, verboten. Maria Tanase, die große Sängerin, die alle verehrten, durfte nicht einmal auf Hochzeiten gespielt werden. Denn sie sang: Welt, Welt, Schwester Welt Wann hab ich dich satt Wenn mein Brot mir trocken ist Das Glas mich in der Hand vergisst Wenn das Sargbrett schlägt um mich Vielleicht dann hab ich dich satt Oder: Wer liebt und verlässt Den soll Gott strafen Gott soll ihn strafen Mit dem Schritt der Käfers Mit dem Kriechen der Schlange Mit dem Surren des Windes Mit dem Staub der Erde Oder: Älter werden schwere Kleider Ich möcht nicht dass sie mir zerreißen ... Kann man ein Land, das 100 Jahre solche Lieder hat, mit dummgestrickter sozialistischer Tölpelmusik abspeisen? Ja, man kann. Wenn auf jedem Quadratmeter des sogenannten Vaterlands ein Denunziant steht, kann man.

Die jungen Leute wollten Rockmusik. Hie und da gab es Konzerte, alle mussten sich hinsetzen und sitzen bleiben. Die Saalwände waren rundherum mannshoch dunkelblau, eine Wandtäfelung von den Uniformen der Polizisten: purpurblaue Mäntelein.

Rockmusiker hatten mit den Liedtexten dieselben Scherereien wie die Schriftsteller. In jeder Poesie witterte die Zensur Anspielungen auf den Diktator, auf die Not im Land oder den Wunsch, aus dem Land zu fliehen. Die Texte wurden so lange zensiert, bis ein Konzert nur noch aus kräftigem Gehopse und inhaltsleerem Gesang bestand. Für die Musiker war jedes Konzert ein halber Sieg und eine ganze Niederlage. Wie die Literaten Bücher, schmuggelten sie Schallplatten ins Land. Sie kannten die Rockmusik, die damals in der freien Welt kursierte. Literaten arbeiten still, Schreiben macht kein Geräusch, es konnte geschrieben werden, wenn auch nicht veröffentlicht. Sogar versteckt werden konnte das Geschriebene. Musiker wurden schon bei jeder Probe für ein Konzert mit dem Zensor konfrontiert. Chip far`de chip Frunte de nisip Glas far`de glas Ce-a mai ramas Timp a ramas Timp far`de timp Ce-as putea sa schimb Unu dintre frati Pentru un Carpati Am un singur gind ce-as putea sa vind boaba de strugure sau un nasture sapca far`de cap as putea sa tac mai pentru nimic noaptea coase-un sac de intuneric. Iarba vitrega amara Fluiera un tren in gara Sau un copil fa'de adulti Pe-asfalt sta un pantof descult Auf Deutsch: Gesicht ohne Gesicht Stirnrand aus Sand Stimme ohne Ton Was bleibt da schon Zeit bleibt fürs Sterben Was lässt sich verscherbeln Einer meiner Brüder Auf dem kalten Platz Für eine Carpati Etwas macht mir Sorgen Was vekauf ich morgen Die süße schwarze Traube Den grauen Hosenknopf Die Kappe ohne Kopf Für nichts und wieder nichts Das Schweigen nimmt sich Zeit Die Nacht näht einen Sack aus Dunkelheit. Bitterstures böses Gras Durch den Bahnhof pfeift ein Zug Ein elternloses Kind ist alt Ein leerer Schuh auf dem Asphalt Auf ihre Bitte hin habe ich damals Liedtexte auf Rumänisch für befreundete Rockmusiker geschrieben, auf ihre fertige Musik, eine herrlich komplizierte Rock-Barock-Oper. Aber ich war schon ein Staatsfeind. Wie abgesprochen, sagten sie dem Zensor, die Texte seien von ihnen. Es half nichts, sie kamen nicht infrage. Aber ich weiß heute auch aus meiner Akte, dass damals alle Zimmer meiner Wohnung verwanzt waren. Wahrscheinlich wurden wir abgehört. Ein Lyriker, dessen Namen man nicht verstecken musste, schrieb den Freunden dann ein Textgewäsch, das man öffentlich singen durfte. Es waren ein Dutzend Liedtexte und das Einzige, was ich je auf Rumänisch geschrieben hab, als Freundschaftsdienst. Diesen ersten, hier zitierten, sang mir der Trommler oft vor. Darum weiß ich ihn noch. Alle anderen habe ich längst vergessen.

Was ich nicht vergessen habe:

Damals, als das Wolfsrudel uns als Beute verschmäht hatte, als mein Großvater den Fiaker wieder flottgekriegt hatte, als wir im Sackdunklen bei seinem Bruder ankamen, musste ich gleich zu Bett. Bevor meine Großmutter das Licht ausknipste, fragte ich: Warum hat die Großmutter vom Rotkäppchen dem Wolf nicht gesungen?

Und meine Großmutter sagte: Denk nicht dorthin, wo du nicht sollst.

Herta Müller

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