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Papa auf Abwegen: Der psychopathische Markus (Mads Mikkelsen) tröstet seine Tochter Mathilde (Andrea Heick Gadeberg).

© Rolf konow

„Helden der Wahrscheinlichkeit“ im Kino: Grenzüberschreitung nach dänischer Art

Treffen sich drei Nerds und ein Soldat. Klingt wie der Anfang eines Witzes, doch Anders Thomas Jensens Groteske "Helden der Wahrscheinlichkeit" will mehr sein.

Christentum, Kannibalismus, Inzest – in den vergangenen zwanzig Jahren war kein sensibles Thema vor Anders Thomas Jensen sicher. Mit „Dänische Delikatessen“, „Adams Äpfel“ und „Men & Chicken“ ist der dänische Regisseur zum Aushängeschild eines tiefschwarzen skandinavischen Humors geworden. Seine Grenzüberschreitungen polarisieren das Publikum: Die einen sind empört, die anderen begeistern sich über so viel Bruch mit der Political Correctness. Dagegen mutet sein neuer Film „Helden der Wahrscheinlichkeit“ zunächst sogar recht ernsthaft an.

Gerade noch bietet Otto (Nikolaj Lie Kaas) einer Frau im Zug den Platz an, da reißt schon eine Kollision ein Loch in das Abteil. Die Frau (Anne Birgitte Lind) stirbt, Otto lebt, geplagt von Gewissensbissen. Mehr noch: Der Mathematiker ist sich sicher, dass das Unglück kein Zufall war. Unter den Opfern befindet sich auch ein Kronzeuge aus einem Rocker-Prozess. Sollte er ausgeschaltet werden? Mit dieser Theorie und zwei Kollegen erscheint Otto an der Tür der Hinterbliebenen. Und tatsächlich: Der Mann der getöteten Frau, Markus (Mads Mikkelsen, gerade auch in „Der Rausch“ zu sehen), glaubt ihm. Und sinnt auf Rache.

Jensen, der wie immer auch das Drehbuch geschrieben hat, inszeniert den Film zunächst als Drama. Den Zusammenstoß zeigt er mit Zurückhaltung, im Moment, als Markus vom Tod seiner Frau erfährt, verzichtet der Film auf Dialoge. Auch beim Besuch im Leichenschauhaus bleibt das Grauen allein an den Augen des Witwers ablesbar. Nach und nach jedoch sickern Gemeinheiten und Brutalitäten in den seriösen Aufbau ein. Gerade dadurch erreicht Anders Thomas Jensen den Grad an Irritation, auf den er es anlegt.

Mit Hingabe widmet er sich den drei Computer-Cracks. Dem so feinsinnigen wie leicht verwahrlosten Otto stellt er den Soziopathen Emmenthaler (Nicolas Bro) zur Seite, der heimlich eine Vorliebe für Waffen hegt, sowie Lennart (Lars Brygmann), hinter dessen Dauerlächeln sich ein Kindheitstrauma verbirgt. Neben diesem Gespann wirkt die Figur von Markus allzu vertraut: der innerlich verhärtete Krieger, der unter einer posttraumatischen Störung leidet, zu viel trinkt und zu Gewaltausbrüchen neigt. Mikkelsen verkörpert ihn kurzgeschoren und mit Rauschebart.

Die Pointen sind nicht immer geschmackssicher

Wie oft bei Jensen reicht es nur für eine nennenswerte weibliche Nebenfigur: Markus’ Tochter Mathilde (Andrea Heick Gadeberg), die gleichermaßen unter dem Verlust der Mutter wie den psychopathischen Anwandlungen ihres Vaters leidet. Ihre dramaturgische Funktion besteht darin, sich im Lauf der Handlung mit ihm zu versöhnen und gleichzeitig seine innere Wandlung zu motivieren. Vollends blass bleiben die Rocker, die die Hacker-Truppe als Drahtzieher hinter dem vermeintlichen Zugunglück ausmacht. Sie werden von Markus ins Jenseits befördert, bevor sie auch nur Kontur annehmen können. Spannung kommt kaum auf, sie ist bei einem Jensen-Film allerdings auch nebensächlich.

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Treffen sich drei Nerds und ein Soldat – was wie der Beginn eines Witzes klingt, ist im Film Grundlage für einen Großteil des nicht immer treffsicheren Humors. Als Markus angesichts des ewig streitenden Trios wieder mal die Sicherungen durchbrennen und er Lennart in ein Feld jagt, lässt dieser die Hosen herunter – in Erwartung seiner Strafe. Der Slapstick-Moment lässt eine psychologische Verletzung Lennarts aus dessen Kindheit erahnen. Dass Jensen aber gerade aus diesem Kontrast seinen Witz destilliert, ist typisch.

Auf diese Weise spinnt er auch Mord, Folter und Menschenhandel in seine Geschichte ein und wechselt munter die Tonlagen: vom Familiendrama über die Groteske zum Actionfilm. Der Film bringt Genres und Elemente zusammen, die einfach nicht zueinander passen wollen – und zelebriert dieses Nicht-Passen. Jensen schreibt gewissermaßen gegen jede Regel der Wahrscheinlichkeit an. Sein Kino wird dadurch zu einer hermetischen Angelegenheit: Je haarsträubender die Wendungen und je schmerzhafter der Spaß, desto mehr ist ihm der Applaus seines Publikums gewiss.

Dennoch berühren die ruhigen Momente von „Helden der Wahrscheinlichkeit“ durchaus. Das liegt zum einen daran, dass Jensen immer wieder mit denselben Darstellern dreht und ihnen die Figuren auf den Leib schreibt. Mikkelsen und Kaas wissen, womit sie bei dem Regisseur rechnen müssen und was er von ihnen erwartet. Sie verleihen Markus und Otto mit ihrer stillen Konzentration Gewicht. Zum anderen nimmt der Autor seine Figuren ernst. So viel Jensen ihnen auch zumutet, am Ende sympathisiert er mit diesem menschlichen Panoptikum. (In 16 Berliner Kinos, auch OmU)

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