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Torkeln und Schlendern. Ein Trinker und zwei Straßenmädchen, festgehalten von Zille.

© Käthe-Kollwitz-Museum, Privatsammlung

Heinrich Zille in Berlin: Der Mond über dem Milljöh

Heinrich Zilles Kunst beruht auf Witz und Menschenkenntnis. Das Kollwitz-Museum zeigt Höhepunkte seines zeichnerischen Werks.

Der Mond wirft Licht auf den Zweifel in ihrem Gesicht. Die Arbeiterin lehnt an der Brüstung einer Brücke, schielt über ihre Schulter, die Hände zu Fäusten geballt. Sie ringt mit einer schweren Entscheidung. Der Berliner Zeichner Heinrich Zille brauchte nicht viele Striche, um seiner Radierung „Nacht“ aus dem Jahr 1895 eine schwermütige Stimmung zu verleihen: Das Gesicht der Frau mehr angedeutet als ausgeführt, das Licht sparsam und präzise eingesetzt.

In dieser und vielen anderen Bildern von Heinrich Zille, die das Berliner Käthe-Kollwitz-Museum in einer Sonderausstellung zeigt, kommen sein zeichnerisches Talent und sein scharfer Blick auf die Menschen und Verhältnisse seiner Zeit zum Ausdruck. Zille guckte dorthin, wo es wehtat. Er studierte das Leben der Berliner Arbeiterinnen und Arbeiter während der Industrialisierung, das „Berliner Milljöh“ und trieb sich dafür in Gassen, Kaschemmen und Arbeiterstuben herum. Die Protagonistinnen seiner Bilder? Häufig Frauen in simplen Kleidern und Schürzen, die Holz oder Kinder schleppen. Prostituierte. Betrunkene Männer. Kinder über Kinder in viel zu engen Arbeiterstuben.

Szenen, die Zille nicht nur als Beobachter und Zeichner kannte, sondern auch aus seinem eigenen Leben. Denn der Künstler wuchs selbst in Berlin unter ärmlichen Bedingungen in einer Kellerwohnung nahe dem heutigen Ostbahnhof auf. Als Kind und Jugendlicher stockte Heinrich das Familienbudget als Zeitungs- und Milchbote auf. Den Zeichenunterricht, den er als Schüler nahm, musste er selbst bezahlen. Mit vierzehn Jahren begann er eine Ausbildung zum Lithografen, mit siebzehn arbeitete Zille dann zunächst als Werbezeichner, später als Geselle in der Lithografieanstalt „Winckelmann und Söhne“ und ab 1877 als Geselle bei der „Photographischen Gesellschaft“. Zille war Fotograf und Zeichner zugleich.

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Museumsdirektorin und Kuratorin Josephine Gabler zeigt vor allem frühe Werke Zilles. Ihr ist es ein Anliegen, den „hervorragenden Zeichner“ Zille zu zeigen. Weniger den „Pinselheinrich“, wie er zu seiner Zeit genannt wurde. Zille war vor allem für seine Karikaturen in Satirezeitschriften wie „Simplicissimus“ oder den „Lustigen Blättern“ bekannt. Diese Arbeiten würde man heute am ehesten als comicartige Zuspitzungen beschreiben: einfache Konturen, farbig ausgefüllt, untertitelt mit spitzen Sprüchen. Gerade da er sich einen Namen als zeichnerischer Unterhalter gemacht hatte, überraschte viele Kollegen zur damaligen Zeit, dass Zille im Jahr 1924 an die Akademie der Künste berufen wurde. Ähnliches gilt für die Retrospektive im Jahr 1928, die zu seinem 70. Geburtstag im Märkischen Museum gezeigt wurde.

Zwei Straßenmädchen.
Zwei Straßenmädchen.

© Käthe-Kollwitz-Museum, Privatsammlung

Doch 1907 wurde er aus der Photographischen Gesellschaft entlassen. Als zu obszön, zu schlicht, nicht künstlerisch galten seine Werke. Nach der Entlassung begann Zille frei zu arbeiten. Schon seine Zeitgenossin Käthe Kollwitz stellte fest, es gäbe mehr als einen Zille: „einen, der die typischen Illustrationen für Witzblätter machte, und daneben einen anderen.“ Dieser sei ihr der liebste. „Der ist weder Humorist für Witzblätter noch Satiriker. Er ist restlos Künstler.“ Den „anderen Zille“ zeigt das Kollwitz-Museum in über 50 Radierungen, Druckgrafiken, Farbzeichnungen und Bleistiftskizzen aus einer Berliner Privatsammlung.

Kuratorin Gabler stellt dabei häufig Original-Skizzen ausgearbeiteten Radierungen oder Druckgrafiken gegenüber. Die schnelle Bleistiftzeichnung fertigte Zille häufig auf der Straße an, fing schemenhaft, aber präzise Motive ein, die er später im Atelier noch mal studierte, verfeinerte. Zum Beispiel Frauen, die mit Kindern an der Hand durch die Straßen laufen – die Eile, das Gehetzte, das Wehen der langen Röcke, es kommt mit wenigen Strichen rüber.

[Käthe-Kollwitz-Museum, Fasanenstraße 24, bis 9. Januar, täglich 11–16 Uhr]

Diese Skizzen waren für Zille Arbeitsgrundlage. Um sie anzufertigen, ging er an die Orte des Geschehens: Zum Beispiel zu einer Essensausgabe im Jahr 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, als Nahrung knapp und teuer war. „Kartoffelstehen“ heißt die Lithografie, die Dutzende Frauen aneinander gezwängt zeigt – mal wieder mit ihren Kindern an der Hand, die Ungeduld und Anspannung steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

Zille hatte eine Methode entwickelt, durch die man ihn nicht beim Zeichnen bemerkt hat. So haben die Leute unverstellt weiteragiert und nicht das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Zille muss dafür einen kleinen Skizzenblock gehabt, ihn auf Hüfthöhe gehalten und verstohlen hineingezeichnet haben, während sich vor ihm der Stoff für seine Zeichnungen abspielte. Josephine Gabler findet die Wirkung von Zilles Zeichnungen „heute lebendiger und aussagekräftiger“ als die der für den Druck ausgeführten Arbeiten. Und tatsächlich: Ihre Unmittelbarkeit zeigt schonungslos, wie bitter das Arbeiterleben sein konnte. Besonders das der Frauen.

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