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Engagiert. Heinrich Böll (hier bei Protesten im Jahr 1980) wurde am 21. Dezember 1917 in Köln geboren. Er starb 1985.

© imago/Sven Simon

Heinrich Böll zum 100.: Der Mann, der die Sprache bewohnt

Zum 100. Geburtstag: Heinrich Böll war nie wirklich weg. Seine Bücher greifen Themen auf, die uns bis heute beschäftigen.

Zu Lebzeiten hat kaum ein deutschsprachiger Schriftsteller so viel Anerkennung erfahren wie Heinrich Böll. 1972 wurde der Kölner mit dem Nobelpreis geehrt. Sein größter Erfolg, die Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974), verkaufte sich allein in Deutschland über vier Millionen Mal. 13 Werke von Böll wurden verfilmt. Doch mit dem Mauerfall und dem Ende der Bonner Republik, deren innere Befindlichkeit Böll so treffend zu beschreiben wusste, schien er ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein.

Dabei gibt es kaum einen Autor, der so gut über bundesrepublikanische Nachkriegswirklichkeit, Ausgang und Ausklang des Kriegs, Elend und Hoffnungen der Nachkriegszeit bis in die bewegten und konfliktträchtigen sechziger und siebziger Jahre hinein informiert war wie er.

Seine Bücher greifen Themen auf, die uns bis heute beschäftigen. In „Fürsorgliche Belagerung“ (1979) setzt sich Böll mit einer um sich greifenden Terroristenhysterie sowie einem ausufernden Netz an Sicherheitsvorkehrungen und Überwachungsmaßnahmen auseinander. Dass der Protagonist, ein Zeitungsverleger, noch nach dem Tod des RAF-Terroristen Holger Meins (1974) einem seiner Kinder den Vornamen Holger gegeben hat, macht ihn in der Nachbarschaft verdächtig. Ein beklemmendes Buch.

Auch die unerbittliche Verfolgung einer jungen Frau durch die Medien („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“) wirkt nicht gestrig. „Die Zeitung“, wie Böll sein fiktives, an „Bild“ erinnerndes Boulevardblatt nannte, wäre heute wohl ein digitales Medium. Und heute würde Böll sich wohl über Internethetze, Facebook und Datenschutzfragen aufregen.

Man liest Böll gerade um des Waschküchenmiefs willen

Romane wie „Und sagte kein einziges Wort“ , „Haus ohne Hüter“ und „Billard um halb zehn“ aus den fünfziger Jahren handeln vom Krieg, der mangelnden Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich). Zunächst war Böll – bevor er 1951 den Preis der Gruppe 47 erhielt – noch nicht sonderlich erfolgreich. Ganze drei Jahre nach dem Krieg, als viele Menschen noch in Trümmern lebten, fühlte er sich schon unverstanden und konstatierte: „Mein eigentliches Gebiet ist ja offenbar der Krieg mit allen Nebenerscheinungen und keine Sau will etwas vom Krieg lesen oder hören, das macht dich verrückt.“ Jetzt, über sechzig Jahre später, sind diese Themen derart medial präsent, dass man eher das Gefühl hat, die Deutschen kämen nie los von dieser Zeit.

Wenn man den frühen Böll liest, meint man diese Zeit spüren, hören und schmecken zu können. Der gegen ihn etwa von Ernst Herhaus erhobene Vorwurf des „Waschküchenmiefs“ und der „Normaleleuteschreiberei“ wirkt überheblich. Man liest Böll gerade um des Waschküchenmiefs willen. Sinnlich war Böll immer, nie hölzern oder weltfern. Vor allem lag ihm das Erfinden von Figuren, die eine hohe Identifizierung erlaubten. Stets gebrochen und von Selbstzweifeln befallen, nie moralisch einwandfrei, spiegelten sie eben normale Menschen auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft, in oder vielmehr außerhalb der Kirche, in der Familie und im angespannten Verhältnis zu sich selbst.

In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1964) skizziert Böll eine „Ästhetik des Humanen in der Literatur“ und spricht von einer „bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land“, die er sich nun nach dem Ende des Kriegs wünscht, nach Militarismus und letaler Bürokratie, nach den Ruinen, die der Krieg nicht nur auf den Straßen hinterlassen hat. Hier äußert sich ein antielitär denkender Intellektueller, der mit „Bewohnbarkeit“ eine neue Taktilität meint, eine Renaissance der Sinnlichkeit von Sprache und Bildern. Deshalb gehen einem seine Figuren so nahe. Wenn Böll etwas nicht war, dann linksradikal. Das Vorgefertigt-Ideologische, die Kostümierung mit politischen Fähnchen und Wimpeln lag ihm nicht, ihm ging es um den Einzelnen, der in Widersprüchen befangen war und eben nicht zur Eindeutigkeit fand.

Er ist sprachlich genau, treffend, nicht gewalttätig, aber ungeschminkt

Engagiert. Heinrich Böll (hier bei Protesten im Jahr 1980) wurde am 21. Dezember 1917 in Köln geboren. Er starb 1985.
Engagiert. Heinrich Böll (hier bei Protesten im Jahr 1980) wurde am 21. Dezember 1917 in Köln geboren. Er starb 1985.

© imago/Sven Simon

Verteidigen muss man den Autor auch gegen Hermann Kestens Vorwurf, „nicht schreiben, nur erzählen“ zu können. Mehrfach wurde geäußert, sein Stil sei zu wenig experimentell, nicht innovativ. Diese Kritiker kannten offenbar Textmontagen wie „Frauen vor Flusslandschaft“ nicht. Anders als viele seiner Generationskollegen huldigte Böll nicht der Idee einer unverwechselbaren künstlerischen Handschrift; er legte keinen Wert auf literarische Markenzeichen, dazu war er nicht eitel genug. Seine Sprache, sein Stil passte sich dem Subjekt an.

Es ist überdies ein unausrottbares Vorurteil, dass etwas, das sich gut liest, keinen höheren literarischen Wert haben kann. Böll ist nicht nur inhaltlich interessant (das haben ihm seine Kritiker zugestanden), sondern auch sprachlich genau, treffend, nicht gewalttätig, aber doch ungeschminkt. „Am meisten bewundere ich die Einfachheit, Klarheit, Genauigkeit seiner Sprache. Er macht keine Sprüche und er versucht niemals zu bluffen“, schrieb Carl Zuckmayer über Böll. Der einzige substanzielle Vorwurf stammt von Hans Erich Nossack. Der um einiges ältere Schriftsteller (1901–1977) befand, dass Bölls Werk zu sehr auf Versöhnung und Harmonie ziele. Der Roman „Ansichten eines Clowns“ (1963) war für ihn misslungen, weil „ungefährlich“.

Das gesellschaftspolitische Engagement schien seine wahre Bestimmung zu sein

Darüber dachte man jedoch mal anders. Wie schnell ein Schriftsteller in Misskredit geraten und für „gefährlich" gehalten werden kann, lässt sich man am Beispiel Böll gut verfolgen. Er wurde von der Polizei observiert, musste Hausdurchsuchungen erleiden und war einer Verleumdungskampagne ausgesetzt. Es gab Menschen, die „Kopf ab!“ für ihn forderten. Harmloser war, wenn sich Kellner im Restaurant weigerten, den Schriftsteller und seine Familie im Restaurant zu bedienen. Böll, der sich immer von den Methoden und Zielen der RAF distanziert hatte, wurde bis in den Bundestag hinein zum ideologischen Helfershelfer der Terroristen erklärt.

Dabei ärgerten sich gerade viele stramm Linke damals über Böll, weil er in einer Zeit, in der nicht wenige vom „Tod der Literatur“ faselten, an einem Primat der Literatur über die Politik festhielt. Für Böll war Politik an Literatur gebunden und Literatur kein Mittel zum Zweck. Dessen ungeachtet schien für viele Linke das gesellschaftspolitische Engagement die wahre Bestimmung des Literaturnobelpreisträgers zu sein. Da hatte Böll in der Tat einiges zu bieten. Er setzte sich für Brandt und dessen Ostpolitik ein, nahm verfolgte Schriftsteller, Alexander Solschenizyn und Leo Kopelew, bei sich zu Hause auf, ging gegen Vietnam und die Wiederaufrüstung auf die Straße, sprach sich für einen menschenwürdigen Umgang auch mit Terroristen aus und setzte sich kritisch mit der katholischen Kirche auseinander. Ärger handelte sich Böll jedoch auch damit ein, sich nicht parteilich zu binden. Böll stand Willy Brandt nahe, aber nicht unbedingt der SPD, und es ist auch von ihm überliefert, dass Brandt eine singuläre Erscheinung gewesen sei.

In den letzten Jahren gibt es Anzeichen dafür, dass sich der Blick auf Böll wieder verändert hat. Wichtige Werke wie Ralf Schnells „Heinrich Böll und die Deutschen“ und Jochen Schuberts Biografie „Heinrich Böll“ sind in diesem Jahr erschienen und holten den Schriftsteller aus der gemütlich-angestaubten Ecke hervor. Es mehren sich die Stimmen, die den Roman-Architekten Böll für bislang unterschätzt halten und in Werken wie „Billard um halb zehn“ (1959) neu entdecken. Überdies gilt Bölls kluges, von einer humanitären, nicht ideologieverhafteten Haltung geprägtes Engagement heute nicht mehr als veraltet.

Die Zeit führ Heinrich Böll ist wieder gekommen

Nach dem Furor, mit dem nach Mauerfall und „Sieg“ des Kapitalismus über den Kommunismus eine Zeit lang medial gegen die Altachtundsechziger und ihr vermeintliches Fehlgeleitetsein zu Felde gezogen worden war, scheint nun ein weniger erregt-triumphaler, ideologisierter Blick auf Heinrich Böll möglich zu sein. Die Neobiedermeiers von heute brauchen ihn und die Haltung, für die er (auch) stand, nicht mehr zu bekämpfen. Die Vertreter des alten politischen Katholizismus, die sich damals so vehement gegen Böll wendeten, wirken jetzt, anders als Böll, hoffnungslos altmodisch. Böll hingegen wird, hört man, wieder vermehrt auch außerhalb des Deutschunterrichts gelesen und nicht mehr nur als Intellektueller „seiner Zeit“ betrachtet.

Solche Wahrnehmungsverschiebungen in der Rezeption von Schriftstellern hat es immer gegeben. Man denke an Hermann Hesses Comeback Ende der sechziger Jahre. Dass sich jede Generation offenbar noch ihr eigenes Bild von einem Schriftsteller und seiner Bedeutung macht und nicht stumpf der vorgegebenen Wertung eines Kanons folgt, macht Hoffnung in Hinblick auf die Lebendigkeit von Literatur. Die Zeit für Heinrich Böll ist wieder gekommen. Sie war eigentlich nie vergangen, nur hatten wir ein wenig den Blick abgewendet.

Tanja Dückers, geboren 1968, lebt als Schriftstellerin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr „Mein altes West-Berlin“.

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