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Streitbares Temperament. Der Historiker Heinrich August Winkler.

© Mike Wolff

Heinrich August Winkler zum 80.: Von Weimar in den Westen

Heinrich August Winkler schrieb die monumentale "Geschichte des Westens". Heute wird der Doyen der neueren deutschen Historiker 80 Jahre alt. Eine Gratulation.

Ob das Interesse an normativen Fragen wie der Entwicklung der Theorie und Praxis der Menschenrechte und der Demokratie in den letzten Jahren wirklich gewachsen ist, mag dahingestellt bleiben. Aber dass dieses Motiv den Weg des Historikers Heinrich August Winkler als Wissenschaftler und markante Stimme im öffentlichen Leben bestimmt hat, steht außer Zweifel.

Er bekennt es ja auch in der Einleitung des Hauptwerkes seiner späten Jahre, der monumentalen „Geschichte des Westens“, mit dem er ein bis dahin kaum beackertes Forschungsfeld zu bearbeiten begann. Entstanden ist, vier Bände dick, das Exempel einer Verbindung von großer Geschichtserzählung und deren Durchdringung mit dem ehrgeizigen Versuch ihrer Deutung. Sie gilt dem Ringen um die Wertewelt des Westens, die er als „normatives Projekt“ begreift. Das ist – leicht über der Wirklichkeit schwebend – das anspruchsvolle Konzept der liberalen Demokratie, in der Winkler das treibende, richtungsweisende Ferment der Geschichte sieht.

Der Leser wird durch die Fülle des Materials herausgefordert

Mit diesem Ansatz hat Winkler seine Rolle als eine der herausragenden Gestalten der Historikergeneration befestigt, die die Entwicklung des Faches in der Bundesrepublik bestimmt hat. Wie kaum einer sonst stellt er die Geschichte in den Horizont der Gegenwart und ihrer Perspektiven. Diese Geschichte des Westens ist keine Ideengeschichte und keine Geschichtsphilosophie – oder von allem nur ein bisschen.

Es ist ein Überwältigungsversuch, der den Leser mit seiner Fülle von Fakten und Analysen herausfordert – alles im Dienst der Verteidigung eines Begriffs, der über Jahrhunderte die Welt veränderte, sieghaft noch die Karriere der atlantischen Allianz und, nicht zuletzt, der deutschen Nachkriegsgeschichte bestimmte, aber inzwischen in eine Krise geraten ist.

Im Berliner Politik- und Medienbetrieb ist er eine Instanz

Es ist dieses Format seiner Wissenschaft, das Winkler einen bemerkenswerten Platz in der Öffentlichkeit verschafft hat. Allerdings hat er auch die Courage bewiesen – und ein solches Vorhaben braucht Courage –, die deutsche Geschichte, gebrochen und schwierig wie sie ist, als einen Handlungs- und Problemzusammenhang zu erfassen. Dieses zweibändige Werk, das er unter den programmatischen Titel „Der lange Weg nach Westen“ stellte, erschien überdies zu einem günstigen Zeitpunkt, am Ende der neunziger Jahre, als die Bundesrepublik sich als gesamtdeutsches Staatswesen etabliert hatte und die Politik in die neue Hauptstadt umgezogen war.

Diese Koinzidenz von erlebter Geschichte und einer Geschichtserzählung, die dem umwälzenden Geschehen gleichsam einen Subtext gab, hat dem Werk seinen ungewöhnlichen Erfolg verschafft und Heinrich August Winkler im Berlin des Politik- und Medienbetriebs zu einer Instanz gemacht. Selbst der Kanzler, so hieß es damals, habe damals den Austausch mit ihm gesucht.

Gewandte Schreibe und prägnante Darstellungsgabe

Der Titel einer „Art Doyen der neueren deutschen Historiker“, den ihm seinerzeit der „Spiegel“ verliehen hat, mag also gar nicht so weit hergeholt sein, und die Rolle des Historikers der Berliner Republik könnte zu ihm passen. Für einen Moment, den siebzigsten Jahrestag des Kriegsendes, hat er sie vor drei Jahren auch mit Dezenz und Selbstbewusstsein gegeben. Das Bild im Bundestag – Politiker links, Politiker rechts, der Historiker in der Mitte am Rednerpult – prägte sich ein. Auch seine Verabschiedung als Professor an der Humboldt-Universität 2007, bei der sich im Audimax die Professoren und Politiker drängten, brachte in die glanzlose Routine von Universität und Politik einen Hauch von tieferer Bedeutung. Mit alledem hat Winkler der Figur des politischen Professors, einem eher fragwürdigen Bestandteil deutscher Überlieferung, eine unerwartete Auferstehung verschafft.

Dieser öffentliche Erfolg verdankt sich nicht zuletzt dem schlichten Umstand, dass Winkler ein exzellenter Autor ist. Er verfügt über eine gewandte Schreibe und eine prägnante Darstellungsgabe. Er versteht sich auf knappe, erhellende Zuspitzungen und überzeugende Beweisführungen. Auch beflügeln ihn sein streitbares Temperament wie sein Ehrgeiz, in der öffentlichen Debatte zu wirken. Stets hat er deshalb auch gern die Studierstube mit der öffentlichen Arena getauscht und zu den aktuellen Debatten sein Wort gesagt, sei es Migration, sei es die Rolle Europas, seien es andere einschlägige Themen. Erst recht gilt das für die notorischen Streitfragen der deutschen Geschichte, die Vorzüge und Nachteile der deutschen Sonderwege, des Urteils über die Novemberrevolution, der Rolle des Nationalstaates. Zu allem findet man bei Winkler kluge, scharfsinnige und überzeugende Antworten.

Seine Biografie spiegelt die deutsche Geschichte

Es gehört zu Winkler, dass er bereits ein Hauptwerk hinter sich hatte, als er auf das Großunternehmen zusteuerte, mit dem ihn die Öffentlichkeit heute identifiziert. Drei Bände, bald dreitausend Seiten, umfasst sein Werk über die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, erschienen in den achtziger Jahren, gefolgt von einer Geschichte der Weimarer Republik, die längst als Standardwerk gilt. Zusammen mit der „Geschichte des Westens“ bezeugt es nicht nur Winklers außerordentliche Produktivität, sondern auch den Wandel seiner Interessen und des intellektuellen Klimas. Denn die Geschichte der Arbeiterbewegung war auch Winklers Anteil an der Sozialgeschichte, mit der die junge Historikergeneration seit den siebziger Jahren neue Terrains für ihr Fach erschloss.

In dem Werk, auf das Winkler heute zurückblicken kann, steckt eine intellektuelle Biografie, die weit hinein in die Stationen und Wendungen der persönlichen Lebensgeschichte reicht. Sie sind selbst ein Stück Zeitgeschichte. Die Herkunft aus Königsberg, also Flucht und westdeutsche Sozialisation. Das Studium in Tübingen bei Hans Rothfels, dem einstigen Ordinarius in Königsberg und Amerika-Emigranten, bei dem schon der Vater promoviert hatte. Der Wechsel der Parteizugehörigkeit des jungen politischen Aktivisten von der CDU zur SPD nach Adenauers Brandt-Verunglimpfung im Wahlkampf 1961. Die FU-Erfahrungen mit der Studentenrebellion, derentwegen der junge Professor ins idyllische Freiburg ging, um fast zwanzig Jahre zu bleiben. Die Parteinahme für die deutsche Zweistaatlichkeit und das Eingeständnis des Irrtums nach der Vereinigung. Schließlich die Entscheidung für Berlin, mitten hinein in den neuen Anfang einer Universität und einer Stadt. An diesem Mittwoch wird Heinrich August Winkler 80 Jahre alt.

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