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Volkssänger. Reinhard Mey, 71, hier noch im T-Shirt, beim Soundcheck im Tempodrom. Foto: Davids/Boillot

© DAVIDS

Heimspiel für Reinhard Mey im Tempodrom: Weiße Haare über den Wolken

Geballte Nettigkeit im Familienkreise – Reinhard Mey singt in Berlin vor ausverkauftem Haus. Und im Publikum fließen jede Menge Tränen.

Er hat kaum angefangen zu spielen, als sich im Publikum die ersten Zuhörer Tränen aus den Augenwinkeln wischen. Dabei ist es ein eigentlich eher heiteres, eigens für das Berliner Publikum komponiertes Begrüßungslied, mit dem Reinhard Mey sein ausverkauftes Konzert im Tempodrom eröffnet, die richtigen Tränentreiber stehen erst viel später auf dem Programm. Aber so ist das nun mal bei Auftritten dieses Mannes: Er kann singen, worüber er will, es fühlt sich immer an wie ein schwer sentimentales Familientreffen, bei dem geheult wird, ohne dass irgendjemand ganz genau sagen könnte, weshalb.

Die Haare sind wieder ein bisschen weißer geworden, und ein bisschen länger, worüber Mey später noch Witze machen wird („Die Frisur ist vom März, und sie hält immer noch – das nenne ich Friseurhandwerk!“). Schwarze Cowboystiefel, graue Jeans, schwarzes Satinhemd, der obligatorische Ohrring funkelt im Licht eines einsamen Scheinwerfers. Ansonsten braucht es nicht viele Accessoires für ein Mey-Konzert: Abgesehen von Gitarre und Mikrofonständer ist die Bühne gähnend leer, ganz so, wie es Mey am Ende, bei den Zugaben in seinem altbekannten musikalischen Credo formulieren wird: „Deshalb lob’ ich mir ein Stück Musik, von Hand gemacht/ Noch von einem echten Menschen mit dem Kopf erdacht/ ’ne Gitarre, die noch so wie ’ne Gitarre klingt/ Und ’ne Stimme, die sich anhört, als ob da jemand singt.“

Seit inzwischen 50 Jahren hält er sich an dieses Motto, ein halbes Jahrhundert, in dem Meys Plattenverkäufe in Deutschland die der Beatles überflügelten und er bei jeder Tour aufs Neue vor ausverkauften Hallen spielt, in Berlin gleich drei Abende am Stück, es sind die Abschlusskonzerte seiner jüngsten Tournee. Zwei Dutzend Lieder wird er in den nächsten drei Stunden spielen, die Hälfte davon vom jüngsten Album „Dann mach’s gut“, der Rest Klassiker aus den 25 Alben davor, dazwischen launiges Geplauder, das vom Publikum frenetisch beschmunzelt wird.

Interessant dabei der zunehmende Kontrast zwischen Meys Sing- und Sprechstimme: Während er als Vokalist nach wie vor seine charakteristisch übergenaue Aussprache pflegt, schleichen sich in die Stimme des erzählenden Meys inzwischen überraschend raue Reibeisennoten.

Altes Lied, neues Lied

Gut, er ist jetzt auch 71 Jahre alt, ein Umstand, über den Mey im Verlauf des Konzerts mehr als einen Witz reißen wird, zum Amüsement seines auch nicht eben jünger werdenden Publikums. Sie wirken überhaupt wie zwei sehr eng miteinander verbandelte Partner, der Mann auf der Bühne und die Massen auf den Sitzen, Meys geballte Nettigkeit findet ihr Spiegelbild im Publikum: Das vorab per Lautsprecherdurchsage erteilte Handy-Fotoverbot wird bedingungslos eingehalten, da ist kaum ein Rascheln oder Husten, selbst mitgesungen wird hier nur so leise, dass es den Nebenmann nicht stört, auch wenn die kontinuierlich in Bewegung befindlichen Lippen sämtlicher Sitznachbarn engste Textkenntnis nahelegen.

Das bleibt auch so, als Mey nach der Pause ein Lied ankündigt, das er nur noch alle zehn Jahre singe, „weil es ein altes Lied ist, aber ich möchte, dass es neu bleibt, deshalb gehe ich sehr sorgsam damit um“.

Es folgt „Über den Wolken“, jener größte aller Mey-Hits, den der Berliner Regisseur Christian Petzold kürzlich im Tagesspiegel-Interview zum „einzigen guten deutschen Volkslied“ erklärte, weil es beschwöre, „dass wir Deutschen nur über den Wolken frei atmen können, nicht auf Erden“. Ob Petzold im Publikum saß? Wenn nicht, wird er das Stück nun leider erst 2024 wieder live hören können, von einem dann 81-jährigen Reinhard Mey.

Der Höhepunkt des Konzerts folgt ein paar Lieder später, bei „Dann mach’s gut“, einem von zwei Stücken des aktuellen Albums, in denen Mey über seinen Mitte dieses Jahres tragisch ums Leben gekommenen Sohn Maximilian singt, der nach fünfjährigem Wachkoma starb. Von der verpassten Chance ist da die Rede, dem Kind ein letztes Mal ein Willkommen zu bereiten, „wie es einem Königssohn gebührt und zur Ehre gereicht“, anders als bei den tatsächlichen letzten Begegnungen mit ihren schleppenden Vater-Sohn-Dialogen: „Alles klar?“ – „Ja.“ – „Was gibt’s Neues?“ – „Nichts.“ – „Wie war die Fahrt?“ – „Okay.“ Flossen im Publikum auch vorher schon jedes Mal reichlich Rührungstränen, wenn Mey im Verlauf des Konzerts Lieder für seine Tochter, seinen Vater und gleich mehrfach für seine Frau sang, so ist jetzt endgültig kein Halten mehr. Ein Familientreffen, bis zum Schluss.

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