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Linker Thinktank. Historiker und Marxist Perry Anderson.

© YouTube/Otra Vuelta de Tuerka

"Hegemonie" - von Sparta bis zu den USA: Marxist Perry Anderson spürt der Legitimation von Macht nach

Vorherrschaft mit Schrecken: Der britische Historiker nimmt sich in seinem lehrreichen Buch den Begriff "Hegemonie" vor.

Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, machte vor einem Jahr Schlagzeilen, als er die kulturelle Hegemonie der Westdeutschen über die Ostdeutschen beklagte. Gar von kulturellem Kolonialismus war die Rede. Um kulturelle Hegemonie und Kolonialismus geht es auch, wenn gegenwärtig – in ganz anderem Kontext – die Museumspolitik des Berliner Humboldt-Forums kritisch befragt wird. Die AfD suggerierte in einer Großen Anfrage im Bundestag jüngst, museale und politische Versuche, die koloniale Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten, führten dazu, dass die ethnografischen und kunsthistorischen Sammlungen, um die es doch gehen sollte, in den Hintergrund treten würden.

Bizarrerweise berief sich die Anfrage auf den im Juni verabschiedeten Gründungsintendanten Horst Bredekamp. Für die AfD wird Hegemonie zum politischen Vorwurf, doch dreht sie den argumentativen Spieß um: Jeder, der sich mit „hegemonialen Machtstrukturen“ befasse, übe selbst Hegemonie aus. Wer genauer wissen möchte, was es mit dem Konzept der kulturellen Vorherrschaft auf sich hat, findet mittlerweile eine ganze Reihe von Büchern, die den Begriff im Titel führen, wird jedoch in den gängigen politischen und historischen Begriffsgeschichten kaum fündig.

Das mag daran liegen, dass die Popularität dieses Konzeptes jüngeren Datums ist, wie Perry Anderson im Vorwort seiner Studie „Hegemonie – Konjunkturen eines Begriffs“ feststellt, die im englischen Original den lässigen Titel „The H-Word“ trägt. Ein amerikanischer Bibliothekskatalog hilft ihm, den großen Theoriesprung zu markieren: Erst in den 1990er Jahren erschienen mehr als zwei bis drei Handvoll Bücher jährlich zum Thema.

Eine klassische aber keine neutrale Begriffsgeschichte

Nun fragt Anderson nicht, wie es zu diesem rasanten Anstieg kam. Anderson setzt vielmehr klassisch begriffsgeschichtlich an, versteht seine Studie in erster Linie als eine „Übung in vergleichender historischer Philologie“. Seine Untersuchung des Konzeptes erstreckt sich von der Antike bis zur Gegenwart, vom antiken Sparta bis zu Barack Obamas Vereinigten Staaten, sie macht also kurz vor der unmittelbaren Gegenwart halt: Die rechten Populisten von Trump bis Orbán kommen nicht mehr vor.

Anderson schreibt gleichwohl keine neutrale Begriffsgeschichte: Wenn er den Wandel des Hegemonieverständnisses als „eine Art politisches Barometer“ für die wechselnden Machtverhältnisse begreift, erahnt man die zwei Seelen, die in seiner Brust wohnen. Der vielleicht letzte der großen marxistischen Historiker aus der Anglofonie, 1938 in London geboren, aber seit vielen Jahren in den USA zu Hause, behandelt das Scheitern linker Hoffnungen, die Geschichte einer politischen Desillusionierung, nicht zuletzt seiner eigenen.

Das Verhältnis von Einvernehmen und Gewalt

Von dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, mit dem Anderson sich eingehend befasst hat, stammt das wohl bekannteste Hegemoniekonzept. Gramsci, der erhebliche Zeit seines Lebens in Mussolinis Gefängnissen verbrachte und dort seine berühmten Notizbücher verfasste, entwickelte, so rekonstruiert es Anderson, eine Idee von Hegemonie, die um das Verhältnis von Einvernehmen und Gewalt ringt: Ohne Zwang gehe es ebenso wenig wie ohne breitere Zustimmung. Als Gramsci im April 1937 in Rom starb, heißt es mit melancholischer Emphase, waren im Westen beide Elemente „außerhalb der Reichweite seiner politischen Richtung“.

Nüchtern schreitet er in der chronologischen Ordnung mit der Rekonstruktion von Hegemoniekonzepten voran, die sich abseits von Gramscis Verständnis entwickelten: Da ist zuerst „Die Hegemonie“ des monarchistischen Völkerrechtlers Heinrich Triepel 1938, von Carl Schmitt mit Bewunderung, wenn auch nicht ohne Widerspruch rezipiert und 1939 mit „Führung und Hegemonie“ beantwortet.

Lässt sich Hegemonie rechtfertigen?

Weiter geht es mit der Legitimation internationaler Führungsansprüche im Kalten Krieg bis zu Legitimationsfragen der neuen globalen Ordnung. Die wiederkehrenden Fragen lauten: In welchem Verhältnis stehen politische, ökonomische, kulturelle Vorherrschaft? Lässt Hegemonie sich rechtfertigen? Ausgesprochen kritisch bewertet Anderson die Vorstöße des Konstanzer Europa- und Verfassungsrechtlers Christoph Schönberger, der eine Debatte über die widerwillige neue deutsche Hegemonie in Europa anzettelte und sich dabei auf das Hegemoniekonzept Triepels berief. Andersen erkennt darin „lang verblasste Tropen“ einer deutschen Vorherrschaft.

Die Wiederaufnahme von Gramscis Ideen in der italienischen wie internationalen Linken seit den 1970er verfolgt Anderson auch, die vom Kulturwissenschaftler Raymond Williams bis zum politischen Theoretiker Ernesto Laclau reicht. Letzterer hatte mit einem Plädoyer für einen linken Populismus Furore gemacht und gehörte mit „Hegemonie und radikale Demokratie“ 1985 zu den Stichwortgebern der neuen Linken.

Die schärfste Kritik gilt Barack Obama

In die gleiche Zeit fällt auch die Adaption von Gramscis Hegemoniekonzept durch die französische Neue Rechte. Gramscis Verständnis von kultureller Hegemonie – gesellschaftlicher Zustimmung, die es zu erobern gälte – entnimmt die Neue Rechte Camouflagetechniken, die rechtsextreme Ideologeme in neuem Dresscode erscheinen lassen. Diese Seite fehlt in Andersons lehrreicher Begriffsgeschichte. Die vielleicht schärfste Polemik des über weite Strecken ruhigen und sachlichen Buches trifft erstaunlicherweise Barack Obama, der noch in den resümierenden Worten am Ende als Kriegstreiber gebrandmarkt wird. Hier spricht der enttäuschte Marxist, der im Kalten Krieg und dem globalisierten Neoliberalismus seine Feindbilder findet – und ausblendet, wer Gramsci im rechten Lager längst verwertet.

Perry Anderson: Hegemonie. Konturen eines Begriffs. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp, Berlin 2018. 249 Seiten, 18 €.

Hendrikje Schauer

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