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Harald Hauswald: Der Stadtstreicher

Harald Hauswald war Chronist der DDR. Mit seiner Kamera hielt er den Alltag fest. 1990 gründete er die Agentur Ostkreuz mit. Bis heute streift er zu Fuß durch Berlin – und findet das scheinbar Nebensächliche. Ein Porträt.

Der Mann ist arm, er lebt auf der Straße. Man sieht ihn von hinten, seinen krummen Rücken. Eine Jacke hat er schon an, nun will er sich noch eine überziehen, er angelt nach dem Ärmel, verfehlt ihn. Dem Mann sei kalt gewesen, sagt Harald Hauswald. Er traf ihn vor der Kreuzberger Kirche zum Heiligen Kreuz, das ist ein paar Monate her – dem Alten war kalt im Hochsommer.

Harald Hauswald hat den alten Mann nicht gefragt, ob er ihn fotografieren dürfe. Er tat es einfach. Aber er wollte ihm „nicht zu nahe treten“, sagt er. Armut in einem wohlhabenden Land gilt als peinlich. Heute findet Hauswald, dass es das beste Bild einer Serie mit armen Menschen ist. Die Fotos sind gerade in einer Ausstellung zu sehen. Sie zeigen, was aus denen wird, die nichts mehr haben. In diesem Mann ist etwas erloschen, ihm ist kalt innen drin, egal, in wie viele Jacken er sich hüllt.

Eine Geschichte über Armut ist immer auch eine über das Bild, das man sich von der Armut macht. Es geht um einen Zustand, der Obdachlose aus dieser Welt reißt und gleichzeitig mitten in ihr platziert. Vielleicht muss man, um dieses Drama zu erkennen, selbst zu einem Herumtreiber und Sammler geworden sein. Harald Hauswald ist ein Herumtreiber, ein Sammler des Alltags, ein Flaneur. Mit der Kamera durchstreift er die öffentlichen Straßen und Plätze Berlins. Manchmal vergehen Tage, ohne dass er ein einziges Bild dabei schießt. Sind es nutzlose Tage? „Ich laufe die ganze Zeit durch einen Film“, sagt er. „Und ein Foto hält diesen Film an.“

So ein Foto in Schwarzweiß ist herausgerissen aus der Welt und gleichzeitig mittendrin. Harald Hauswald kennt sich aus mit dieser Konstellation. Sie hat sein Leben geprägt, ihn zu einem der wichtigsten zeitgenössischen Fotografen hierzulande gemacht. Dabei hatte es zunächst überhaupt nicht danach ausgesehen.

Mit verschränkten Armen sitzt der 56- Jährige in grauem Kapuzenpullover am Café-Tisch, ein dunkles Bier vor sich, der Schaum tropft noch aus dem buschigen weißen Bart. Seine ergrauten Haare fallen zum Zopf geschnürt über den Rücken. Beim Reden blickt er durch das Panoramafenster auf die Bergmannstraße. Er hat Kreuzberg als Treffpunkt vorgeschlagen. Man würde ihn, den heimlichen Chronisten der DDR, eher in Prenzlauer Berg vermuten. Tatsächlich lebt er dort in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, die Dunkelkammer ist im Bad. Aber längst ist sein Radius nicht mehr auf den Ostteil der Stadt beschränkt.

Er hat 1976 begonnen zu fotografieren, um aus der Welt herauszukommen. Denn die, in der er lebte, die DDR, war ihm zu klein und eng. Der DDR entkam er, indem er noch tiefer in sie eindrang. Dann kam die Welt 1989 zu ihm, und er sah nichts mehr. Hauswald war blind, „berlinblind“, wie er sagt. Überall drängten sich Werbeschriften und -plakate in sein Blickfeld und Menschen, die es darauf anlegten, gesehen zu werden. Berlin wurde geflutet mit bunten Bildern.

Er war verloren darin. Was sollte er tun? Wie Henri Cartier-Bresson, sein großes Vorbild, ist Hauswald ein Straßenfotograf. Er überrascht die Menschen mit seiner Anwesenheit. Dabei faszinieren ihn Leute, die nicht dazugehören. In beinahe jedem seiner berühmten Bilder gibt es eine solche Person, die aus der Ordnung fällt. Und Hauswald hat viele bekannte Bilder gemacht. Wenn er sagt, dass es ihm nie besser gegangen sei als jetzt, dass er Ausstellungen in Schanghai und Paris habe und sogar Dokumentarfilme über ihn gedreht worden sind, dann wegen dieser Bilder. Auf einem berühmten flieht eine Flaggenträgergruppe der FDJ auf dem Alexanderplatz vor einem Platzregen, was als Untergangsfanal des Honecker-Staates gedeutet wurde.

Harald Hauswald wurde 1954 in eine Fotografenfamilie hineingeboren. Sein Vater besaß ein Fotogeschäft in Radebeul, der Sohn begann seine Ausbildung darin. Aber er hielt es nicht lange aus, immer nur in der Dunkelkammer zu stehen. Es kam zum Krach. Anfang der 70er Jahre trampte er an Wochenenden Rockbands wie der Renft-Combo und der Bürkholz-Formation hinterher, schleppte deren Anlagen in die Gaststätten, um umsonst eingelassen zu werden, und ließ sich die Haare wachsen. „Child In Time“ von Deep Purple wurde zum Soundtrack seines Lebens. Er muss kichern, wenn er an seine Vernarrtheit in diese Musik denkt. Das Orgel-Pathos, das Pfeifen der E-Gitarren – der Lockruf absoluter Freiheit.

In ihm baute sich ein Druck auf, der nach dem richtigen Ventil suchte. Er würde nie nach New York kommen, begriff er, ändern würde sich daran nichts, also versuchte er es erneut mit einer Fotografenlehre, diesmal erfolgreicher. Aber sich einfügen, das wollte er nicht. Er tat sich als Industrieanstreicher, Gerüstbauer, Heizer und Aufzugsmonteur um. Schließlich als Telegrammbote in Berlin, in das er 1978 zog. Seine Postdienststelle deckte Prenzlauer Berg ab. Vier Stunden blieben ihm jeweils, um ein Telegramm zuzustellen, ideal für einen, der zu Fuß mit der Kamera durch die Gegend zieht. Anfangs muss er sich überwinden, für ein gutes Foto auf wildfremde Menschen zuzugehen. Auf die beiden Raucher mit Prinz-Heinrich-Mütze an der Schönhauser Allee, die einander helfen, ein Streichholz anzuzünden. Oder auf das Liebespaar in der Lottumstraße, das eifersüchtig von einem Dritten beäugt wird.

Für den real existierenden Sozialismus sind seine Stadtansichten zu real. Hauswald trage zusammen, urteilt die Stasi, „was an düsterem, beklemmendem und ärmlichem Milieu, an Primitivstem nur auffindbar war“. Ein Schuldspruch, der Hauswald irritiert, hat er seine Bilder doch als Liebeserklärung an die DDR verstanden. Er glaubte, dass er sich in einem unpolitischen Raum bewegte. Aber auch dort war er angreifbar. Und die Stasi kannte seinen wunden Punkt. Als allein- erziehender Vater sorgte er für seine Tochter Anne. Um ihn zum Reservedienst wieder in die Armee zu pressen, nahm die Stasi ihm das Mädchen vorübergehend weg. Trotzdem ließ sich Hauswald nicht beirren. Er tat ja nichts Verbotenes, wenn er Liebespaare, Straßenarbeiter und FDJ-Paraden mit seiner Kamera festhielt. Nur eine Drei-Stunden-Stelle der evangelischen Stephanus-Stiftung verhinderte, dass er beschäftigungslos als „asoziales Element“ eingestuft wurde.

Er wusste, er fotografiert „für die Schublade“, so Hauswald. Aber er nutzte die in Ost-Berlin akkreditierten Westjournalisten, um seine Arbeiten auf die andere Seite der Mauer zu bringen. Seine Nahaufnahmen vom sozialistischen Alltag erschienen in „taz“ und „Stern“. Als Hauswald und der Autor Lutz Rathenow 1987 ihren Text- und Bildband „Berlin-Ost – Die andere Seite einer Stadt“ im Piper-Verlag veröffentlichten, pünktlich zur 750-Jahr-Feier, da spitzte sich der Konflikt mit der Parteiführung zu. Das Buch sei ein „Anker“ gewesen, sagt Rathenow, „der uns klar machte, wie sehr wir in den Osten gehörten und dass wir in der DDR gegen die DDR leben konnten“. Auf den Bildern waren tanzende alte Damen im Hackepeter in der Dimitroffstraße zu sehen, Freizeitcowboys auf dem Country-Festival in Woltersdorf, und am Weinbergspark trug ein Punk einen Anhänger wie ein Preisschild im Ohr: „1 Kübel Müll“ stand darauf.

„Er hat es geschafft, Bilder ohne Unterschrift zu machen“, fährt Rathenow fort. „Und Fotos als Kunstmittel zu sehen, darauf war die Stasi nicht vorbereitet. Das hat Harald einen Vorsprung in der politischen Auseinandersetzung verschafft.“ Rathenow ist noch heute erstaunt darüber, wie viel Energie der „Zersetzungsstaat“ der SED aufbrachte, um ihn und Hauswald, zwei im Grunde harmlose Burschen, die sich ihre DDR-Existenz schöner machten, als sie war, zu verfolgen. Feindlicher könne man sich der DDR gegenüber nicht gebärden, befand das MfS. 35 IMs waren auf Hauswald angesetzt, man durchsuchte seine Wohnung, observierte ihn und legte insgesamt 1500 Seiten Aktenmaterial an. Zu einer Verhaftung kam es aber nie. Es hätte im Westen zu viel Aufsehen erregt.

Es gebe in Hauswalds Werk ein Foto, „das genau im Zentrum seiner Arbeiten steht“, schrieben Giovanni di Lorenzo und Benedikt Erenz einmal. Gemeint ist eine Aufnahme von 1989, man sieht, wie DDR-Bürger auf das Brandenburger Tor zulaufen. Sie beeilen sich wegzukommen von da, wo Hauswald stehen geblieben ist. Auf der anderen Seite des Tores, im Westen, sieht man das grelle Licht von Fernsehkameras. Es ist Hauswalds Bild der Wende. Die Menschen tun, was sie wollen, und der Fotograf ist wieder mittendrin und zugleich außen vor.

„Als die Mauer aufging", sagt Hauswald und stützt seinen Oberkörper auf den Tisch, „musste ich mich innerlich nicht verändern.“ Er gründete die Fotoagentur Ostkreuz mit, war auf Ostthemen spezialisiert, aber richtig bei der Sache sei er nicht gewesen, sagen Wegbegleiter. Aufträge gingen zurück. Das Geld wurde knapp, „bis fast zur Wohnungskündigung“, wie Hauswald zugibt. Erst als er 2000 sein Auto verkauft habe und wieder zu Fuß gegangen sei, einen Schwarzweiß-Film in der Kamera und einen bunten im Kopf, wurde es besser.

Er kam nun öfter wieder am Alexanderplatz vorbei, diesem Nicht-Ort, der das Zentrum der DDR gebildet hatte. Mitte der 80er Jahre war er regelmäßig dort gewesen und nicht eher gegangen, bis er ein interessantes Foto gemacht hatte. „Das Offensichtliche, das die DDR-Führung vertuschen wollte, ist heute versteckter“, sagt er. Aber die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die er aufzuspüren versucht, ist mit dem Sozialismus nicht untergegangen. Sie verbirgt sich hinter Selbstdarstellern wie der Yoga-Gruppe, die vor dem Brunnen der Völkerfreundschaft einen mystischen Gott anbetet. Oder in dem Bild des Jongleurs im Mauerpark, dessen Gerätschaften der Lüfte ungenutzt am Boden liegen, während er selbst auf einem Podest steht.

Die Stadt ist nur eine Kulisse, sagt Hauswald. Ob in Rom, Paris, Glasgow oder Chicago, wohin es ihn jetzt öfters führt, immer will er wissen, wie die Menschen den urbanen Raum besetzen. In Berlin folgt er dafür einer Route. Zur Agentur in der Greifswalder Straße und weiter zur Freundin am Chamissoplatz. Sein Weg durchschneidet die Mitte der Stadt. Wenn er darüber redet, im sächsischen Tonfall, dann klingt das nicht wie ein Beruf. Die Fotos entstünden nebenbei, sagt er, „trotzdem bin ich am Abend erschöpft“. Es kostet viel Kraft, den Film im Kopf anzuhalten.

Die Ausstellung „Es soll kein Armer unter euch sein“ ist bis Ende April im Diakonischen Werk, Reichensteiner Weg 24, zu sehen. Der Dokumentarfilm „Zwischen Liebe und Zorn“ läuft am 24. Februar um 20.15 Uhr im Babylon Mitte. Harald Hauswalds Bücher erscheinen im Jaron Verlag.

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