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Amerikanerin mit hawaiianischen Wurzeln. Hanya Yanagihara.

© Jenny Westerhoff/promo

Hanya Yanagihara lesen: Vier Freunde und eine Frau

Drei Tage allein mit Hanya Yanagiharas Tausendseiter „Ein wenig Leben“ – ein Leseexperiment.

Sie hätten das Buch alle nicht mehr aus der Hand legen können, erzählt mir Thomas Rohde, der Pressesprecher von Hanser Berlin, als er mich im Auto nach Ferch am Schwielowsee fährt. Wie kann man Kritiker dazu bewegen, ein Buch von 960 Seiten zu lesen, möglichst in einem Zug? Ungewöhnliche Bücher erfordern ungewöhnliche Maßnahmen: In den zwei Monaten vor dem Erscheinungstermin hat der Verlag insgesamt 15 Buchhändler, Kritiker und Blogger zum Lese-Retreat eingeladen, ohne Auflagen oder Verpflichtung. Deshalb werde ich nun für drei Tage in ein stilles Waldhäuschen gefahren, um, bei gut gefülltem Kühlschrank, drei Tage allein mit Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“ zu verbringen.

Keine Alltagssorgen, kein W-Lan, nur ich und ein dickes Buch – der Traum aller wahren Leser! Als Kind habe ich vielleicht einmal so gelesen, die Wildwest-Sagas von Karl May, aber da wurde ich doch hin und wieder zum Essen gerufen. Die ungewöhnliche Maßnahme, die übrigens weniger kostet als eine halbseitige Anzeige in der „Zeit“, ist mehr als ein cleverer Marketing-Gag. Denn die Einladung zum ungestörten Lesen ist auch eine Einladung zum Nachdenken über das Lesen.

Man solle seinen Geist „so weit wie möglich öffnen“ und damit zum Komplizen des Autors werden, empfiehlt Virginia Woolf in ihrem Essay „Wie man ein Buch lesen sollte“. In einem zweiten Schritt, wenn „der Staub des Lesens sich gelegt“ habe, schlüpfe man in die Rolle des Richters, der das Buch mit dem besten seiner Gattung vergleicht.

Was ist Freiheit, was ist Disziplin?

Meine drei Tage in Ferch im Dezember sind dem komplizenhaften Lesen gewidmet. Acht Stunden à 40 Seiten, damit seien die 960 Seiten in drei Tagen zu bewältigen, so hatte mir Thomas Rohde im Auto vorgerechnet. Doch unbegrenztes Lesen bedeutet nicht Freiheit, sondern Disziplin, darüber mache ich mir keine Illusionen. Ich teile die Lesestunden ein, nehme mir Spaziergänge vor, plane Pausen und stelle den Timer auf 90 Minuten.

Im Buch begegne ich vier Männern in einem nur schemenhaft präsenten New York. Ein dichter Einstieg: In der ersten Lesestunde erfahre ich ganze Biografien. Wie in einer Exposition werden die vier Freunde vorgestellt. Willem (Schauspieler) ist Sohn eines Ranch-Arbeiters aus Wisconsin und das einzig überlebende von vier Kindern. JB (Maler) kommt aus der haitianischen Community, nach dem frühen Tod seines Vaters ist er unter Frauen aufgewachsen. Malcom (Architekt) hat einen reichen schwarzen Vater und eine zerstreute weiße Mutter. Nur über den brillanten Neurotiker Jude (Jurist) weiß niemand etwas, er hinkt, leidet unter mysteriösen Schmerzattacken – und er ritzt sich. Über vierzig Jahre hinweg begleiten wir nun das Leben dieser vier Freunde, die auf der Suche sind nach ihrem Leben, ihren Gefühlen, ihrer Sexualität. Ein Männerbuch, geschrieben von einer Frau.

Ich hatte mir vorgenommen, beim Lesen nicht aufs Handy zu schauen. Nach gefühlten zweieinhalb Stunden tue ich es doch. Habe ich den Timer nicht gestartet? Von wegen. Dieses Buch will schnell gelesen werden, und doch verlangsamt es beim Lesen die Zeit. Vielleicht geschieht das beim Lesen immer, und ich habe es nur nie gemerkt? Es fällt mir nicht schwer, in diesen Text einzutauchen, der manchmal fast unangenehm nah an die vier Männer heranzoomt. Ich unterstreiche Sätze. „Die schrecklichsten Wenns hängen mit anderen Menschen zusammen. Die guten auch.“ – „Ich glaube, Glücklichsein ist nichts für mich.“ (Jude) – „Sie hätten nie von ihm erwartet, so zu sein wie sie – sie selbst wollten ja kaum sie selbst sein.“ (über Willems Eltern)

Ein wucherndes Stück Literatur

In diesem Roman geschieht ungeheuer viel, und doch hat er keine Handlung. Die amerikanische Autorin Hanya Yanagihara macht mich zur Zeugin von Leben, der Lesesog ist der voyeuristischen Neugierde bei Klatschgeschichten nicht unähnlich. Ich möchte nichts verpassen, und Yanagihara weiß, wie man Leser ans Buch fesselt. „Damals, als er im Kloster gelebt hatte ...“: eine scheinbar hingeworfene Bemerkung über Jude, dann quälend lange nichts dazu. Nach seiner Rettung hatte er ein Gespräch mit einer Sozialarbeiterin, doch über das, was ihm geschehen ist, wir erfahren nur, dass sie genug gehört hatte, „um mich davon zu überzeugen, dass es eine Hölle gibt und diese Männer dorthin gehören“. Hunderte Seiten später: „Männer hatten sich schon immer vor allem aus einem Grund für ihn interessiert; also hatte er gelernt, sie zu fürchten.“ Über Hunderte von Seiten hinweg lese ich mich gierig in das dunkle Zentrum des Buchs vor.

„Ein wenig Leben“ ist ein wucherndes Stück Literatur. Ein klassischer Psychothriller, sowohl vom Spannungsaufbau her, als auch hinsichtlich dessen, was das Findelkind Jude erst im Kloster, dann im Wohnwagen von Bruder Luke und später im Keller von Dr. Traylor durchmacht, so etwas liest man sonst eher bei Stephen King. Es ist ein Thriller und ein Märchen, denn alle vier schaffen den Aufstieg in die Sphären der Reichen und Schönen, es gibt in diesem New York kein 9/11 und auch sonst kein Weltgeschehen.

Zugleich nutzt die Autorin Verfahrensweisen des modernen Romans: Es gibt einen auktorialen Erzähler (der Judes Geheimnis allerdings nicht zu kennen scheint), die Kindheitserinnerungen werden teilweise aus der Sicht von Jude geschildert, vieles entnehmen wir Dialogen, und dann spricht unvermittelt ein Ich-Erzähler, das Kapitel entpuppt sich als (ausufernder) Brief von Harold, Judes ehemaligem Jura-Professor, der ihn als Erwachsenen adoptiert hat. Das Buch handelt von Freundschaft und ein wenig auch vom Schwulsein, doch im Glutkern pulsiert Judes Trauma und seine unaufhaltsame Selbstzerstörung.

Etwas stimmt nicht mit dem Buch

Das getaktete Lesen habe ich aufgegeben, ich lese, wie’s kommt. Es geht leichter voran – liegt es am Buch oder an mir? Wer nur liest, tut alles andere nicht, es fühlt sich an wie eine Form des Entzugs. Fast zwanghaft denke ich ans Essen, mache mich an den Kühlschrank. Beim Lesen in der Waldhütte, wo es früh dunkel wird, bin ich dem Buch ausgeliefert. Die Stimmung des Buchs überträgt sich auf mich, ich bin auf unprofessionelle Weise deprimiert, ja sogar ein wenig wütend. Das Buch tritt mir zu nahe (wie schon das Bild auf dem Umschlag), zum Glück bin ich damit allein, ich würde beim Lesen nicht beobachtet werden wollen.

Je mehr ich mich dem (unvermeidlichen) Ende nähere, habe ich das Gefühl, dass mit diesem Buch etwas nicht stimmt. Was mich irritiert, sind nicht die gelegentlichen Ausrutscher in den Kitsch (Judes Arm wurde „durch die Narben in eine leidgetränkte Landschaft verwandelt“) oder die märchenhaften Übertreibungen, für einen realistischen Roman sind die Guten zu gut und die Bösen zu böse. Es hat mit Jude zu tun. Er sperrt sich gegen jede Therapie, er will sich nicht „reparieren“ lassen, und so engelsgleich sich seine Freunde um ihn kümmern, er verweigert sich.

Auf einem Spaziergang wird es mir klar: Die Autorin trickst. Wie man im Krimi die Polizei nicht rufen darf, damit der Detektiv auftreten kann und im Kinderroman die Eltern aus dem Weg geräumt werden müssen, damit Pippi Langstrumpf freie Bahn hat, so darf hier die Schmerzensfigur die Komfortzone ihres Leidens nicht verlassen. Hätte Jude sich in Therapie begeben (und wäre im Roman nicht ständig von Reparatur, sondern von Heilung die Rede), gäbe es keinen Roman über den Zwang zur Selbstzerstörung. Das nehme ich der Autorin übel, und zwar gerade, weil sie das Trauma so packend und luzide schildert: die Abspaltung vom eigenen Körper, die Flucht in den Schmerz, die Sprachlosigkeit.

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2017. 960 Seiten, 28 €.

Sieglinde Geisel

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