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Die Villa Wiesenstein nahe Jagniatkow (früher Agnetendorf) in Polen, wo Gerhart Hauptmann bis zu seinem Tod lebte.

© dpa/Picture-Alliance/Anna Spiegel

Hans Pleschinskis Roman „Wiesenstein“: Aus einer versunkenen Welt

Vom Ende des Krieges: Hans Pleschinskis Roman „Wiesenstein“ über die späten Jahre des Großdichters und Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann.

Dieser Roman mit dem knappen Titel „Wiesenstein“ ist etwas Besonderes. Ein Fall von enthusiastischer Überwältigung. Sie betrifft nicht nur den Leser, sie hat zuvor auch den Autor in der Zuneigung zu seinem Stoff und seinem Protagonisten ergriffen. Auf Thomas Mann als vorangegangene Leitfigur folgt nun in Hans Pleschinskis Oeuvre der andere große Dichterfürst, gleichsam in namentlicher Steigerung: Gerhart Hauptmann. Die Villa Wiesenstein im einst schlesischen, nach dem Kriegsende 1945 polnischen Agnetendorf war Hauptmanns letzter Wohnsitz, dort ist er im Frühjahr 1946 gestorben.

Der bald 62-jährige, in München lebende Hans Pleschinski, ein hochgebildeter, feinsinniger Erzähler und Übersetzer, überrascht immer wieder auch als Entdecker. Nachdem er den Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen und danach als Trouvaille aus dem Spätbarock das wunderbare „Geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ“ ediert hatte, gelang Pleschinski vor fünf Jahren ein weiterer Coup mit seinem Roman „Königsallee“. Zuvor war er auf Briefe und Dokumente aus dem Nachlass des weltreisenden Bonvivants Klaus Heuser gestoßen und auf den historischen Zufall, dass der aus dem Exil zurückgekehrte Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, zu einem Auftritt nach Düsseldorf eingeladen, dort 1954 in einem Grandhotel an der Königsallee just zum selben Zeitpunkt logierte wie Klaus Heuser. Und drei Jahrzehnte zuvor war dieser als junger Mann einmal die Liebe des erotisch schwankenden Dichters gewesen.

Wieder über eine Mischung aus Neugier und Zufällen, aus Funden und intensiven Recherchen ist Pleschinski nun an Manns ebenso berühmten Rivalen geraten. Beide sahen sich schon zu Lebzeiten in der Rolle des Goethe-Nachfolgers – wobei Gerhart Hauptmann den leichten Vorteil hatte, physiognomisch mit hoher Stirn und lodernder Haartracht dem Weimarer Vorbild oft verblüffend zu ähneln.

Aufbruch am Rande der Katastrophe

In einem langen Interview, das dem Buch zur Einführung dient, schildert Hans Pleschinski seine Gespräche mit Nachfahren, dankt für die Möglichkeit, aus bisher unveröffentlichten Tagebüchern von Gerhart Hauptmann und seiner letzten Frau Margarete zitieren zu dürfen – und schwärmt von der ihn mit ihren Bergtälern und Schlössern bezaubernden Landschaft rund um Agnetendorf, heute Jagniatków, und der als Museum zu besichtigenden, schön restaurierten Villa Wiesenstein. Mit ihren Türmchen, Erkern, Salons und der imposanten historistischen Halle.

Das klingt gleich wie eine Verführung. Und der Roman, der in den beiden letzten Lebensjahren Gerhart Hauptmanns spielt, hat eine starke, wiederum historisch begründete Ouvertüre. Der Autor der viel gespielten, ihm zu beträchtlichem Wohlstand verholfen habenden Dramen wie „Die Weber“, „Der Biberpelz“, „Die Ratten“, „Rose Bernd“ oder auch der Novelle „Bahnwärter Thiel“ und des von Pleschinski hier wiederentdeckten „Atlantis“-Romans, er beendete im Februar 1945 zusammen mit seiner Frau Margarete gerade eine Kur auf den Elbanhöhen bei Dresden. So erleben die Hauptmanns samt ihrer Entourage (Sekretärin, Zofe, Diener) die apokalyptischen Bombardements und die Zerstörung Dresdens zwischen dem 13. und 15. Februar als erschütterte Beobachter: wie ein Bühnenfeuerwerk vor ihren Augen. Und der Roman beginnt mit dem Aufbruch und Ausbruch am Rande der Katastrophe. Mit der Rückfahrt von Dresden nach Schlesien, bei der sich zum Hauptmann-Clan noch ein literarisch interessierter Deserteur als therapeutisch willkommener Masseur gesellt hat.

Der Meister diktiert. Gerhart Hauptmann am Stehpult mit seiner Sekretärin Annie Pollack in der Villa Wiesenstein.
Der Meister diktiert. Gerhart Hauptmann am Stehpult mit seiner Sekretärin Annie Pollack in der Villa Wiesenstein.

© René Fosshag/picture-alliance/Ullstein

Erster Roman-Satz: „Der Opel Blitz kroch über die Mordgrundbrücke.“ Blitz und Mord sind da sofort einschlagende Metaphern, auch wenn jene Brücke keine weitere Bedeutung erfährt. Der Sanitätstransporter, der dem illustren, über achtzigjährigen Hauptmann in angespannter Kriegslage von der Gauleitung exklusiv zur Verfügung gestellt wurde, während es in Dresden „kaum mehr einen Krankenwagen“ gibt, er hat noch einen röhrenden „Holzvergaser“. Also merkt man auf Anhieb das Zeitkolorit und die sorgfältige Recherche. Es ist ein bisschen wie bei Historienfilmen, wenn ab und an ein paar frühe Karossen durchs Bild gleiten.

Das NS-Reich hofierte Hauptmann

Doch Pleschinski streut solche Alltagsdetails nur sehr wohldosiert ein. Ohne kennerisch prunkende Vorzeigegebärde. Das Problem des fünfhundertseitigen Buchs ist eher die Überfülle der (oft seitenlangen) Zitate aus Gerhart Hauptmanns Werken. Der findungs- und empfindungsreiche Literaturforscher Hans Pleschinski hat sich offenbar ganz verliebt, ja verknallt in dieses das 19. und 20. Jahrhundert verknüpfende, von diversen Ehefrauen und Geliebten begleitete Hauptmann-Leben und ein zehntausendseitiges Werk, das zwischen sozialkritischem Realismus, Mythendunkel, Geistermärchen hin- und hertreibt. Zwischen Drama, Prosa und lyrischen Gesängen voll praller, im genialischen Überschwang bisweilen auch fast unfreiwillig komischer Wortwucht. Schlesien, das Riesengebirge ist nah – und Hauptmann der poetische Riese und Rübezahl, so rauschhaft schreibend und mal graziös, mal gravitätisch tanzend, von Unmengen Wein, Champagner und Schnaps trunken träumend, Tag und Nacht.

Thomas Mann, der den stotternden und trotzdem rasend reden könnenden Rivalen als Mynheer Peeperkorn im siebten Kapitel seines „Zauberbergs“ ironisch porträtiert (und karikiert) hat, sah als literarischer Intellektueller im populären Hauptmann den Gegenentwurf des naiveren „Volkskönigs“.

Die Figuren zitieren unentwegt Hauptmann-Texte

Der ward, weil er sich weigerte, wie die Manns und Brechts und Feuchtwangers 1933 zu emigrieren, als Repräsentant dann auch ein gefundenes Fressen der Völkischen. Das NS-Reich hofierte Hauptmann ähnlich wie den Dirigenten Furtwängler, und der Dichter ließ es sich, eitel genug, gefallen, er hielt sich selbst weiterhin für einen unabhängigen, das „wahre“ Deutschland bedeutenden Kopf.

Auf den Zwiespalt und das, was Klaus Mann einst als das „Fassadenhafte“ an Hauptmann beschrieben hat, macht auch Pleschinski immer wieder aufmerksam. Aber er stellt den Menschen hinter der Fassade nicht wirklich infrage – oder besser: dramatisch auf die Probe. Er nimmt sich, anders als bei der „Königsallee“, nicht die hierfür nötige eigene dichterische Freiheit, sondern erzählt oft nur an Dokumenten, an Archivalien entlang. Wobei die Figuren selbst unentwegt Hauptmann- Texte zitieren, sie sich vorsagen, vorlesen, nachlesen. Motiviert wirkt das allenfalls, wenn die Sekretärin Annie Pollack zum Diktat beim Meister weilt.

Der Autor Hans Pleschinski, geboren 1956 in Celle.
Der Autor Hans Pleschinski, geboren 1956 in Celle.

© dpa/picture-alliance/Arno Burgi

Was aus „Wiesenstein“ ohne den Ballast der Werkdokufiction hätte werden können, sieht man an den sich von der Hauptmann-Sphäre zwischendrin lösenden, oft grandiosen Schilderungen des schlesischen (Kriegs-)Endes im Ansturm der Roten Armee, mit unzähligen Erschossenen, Verstümmelten, Vergewaltigten in den blutigen Häusern und Straßen. Beim Totentanz der Opfer und Täter, auf allen Seiten – was mit den beiden Seiten manchmal auch etwas politisch-pädagogisch korrekt betont wird. Doch gelingen Pleschinski hier eindrückliche Szenen. Wie auch beim Besuch russischer Offiziere oder des künftigen DDR-Kulturministers Johannes R. Becher in der Villa. Plötzlich wird da klar, dass nicht nur Hauptmanns Zeit und Welt zerbrochen sind. Eine Welt, die der Roman ein Stück weit wieder zusammensetzen möchte.

Hans Pleschinski: Wiesenstein. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2018. 552 Seiten, 24 €, E-Book 19,99 €.

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