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Durchstreifen und beobachten. Die Schriftstellerin Esther Kinsky. Sie wurde 1956 in Engelskirchen geboren und lebt in Berlin.

© Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

„Hain“ von Esther Kinsky: Jeden Morgen wache ich in einer Fremde auf

Nominiert für den Leipziger Buchpreis: Esther Kinsky erzählt in ihrem Roman „Hain“ von italienischen Orten und der Trauer, die sie mit ihnen verbindet.

So geheimnisvoll klingt der Titel, fast jenseitig. Ein baumbestandener Ort, wo Götter wohnen und die Vorausgegangenen, Verschwundenen spürbar werden. Eine Quelle gehört dazu und dämmriges Licht, aber auch die Ahnung von Blut und Tod. Wer das Wort nicht liest, sondern nur hört, kann es auf andere Weise verstehen: als Hein, den feindlichen Freund, der die Sense schwingt. Aus der Zukunft kommt er den Lebenden entgegen, ist aber auch Vergangenheit, da er Eltern oder Freunde raubte, und raubte er gar den Lebensmenschen, beherrscht er Tag um Tag die Gegenwart des Zurückgelassenen. Davon handelt dieses Buch, das gerade für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik nominiert worden ist.

In kurzen Kapiteln erzählt Esther Kinsky von Orten und Trauer. Die Orte liegen in Italien, aber es geht nicht um das nostalgische Aufsuchen einstiger Stätten des Zusammenseins, auch nicht um „Verarbeiten“ oder, noch schrecklicher, „Aufarbeiten“. Meist hat Kinsky die Orte nicht gewählt, sie fielen ihr zu als Räume, wo sie ein Stipendium wahrnahm oder als Kind die Ferien verbrachte.

Erzählt werden Landschaft und Licht

In Olevano, einem Dorf nahe Rom, unterhält die Villa Massimo eine Dependance. Esther Kinsky verbringt drei Wintermonate in der Casa Baldi, die sie nur als „das Haus“ bezeichnet. Auf der Webseite der Villa Massimo wird Olevano als „romantisches Bergdorf“ gerühmt, die Stipendiaten als „Elite der deutschen Künstler“. Das ist nicht das Vokabular der Autorin. Sie zeichnet auf, was sie wahrnimmt und empfindet.

Erzählt werden Landschaft und Licht, der Alltag der Dorfbewohner, die selbst auferlegten Riten, um das Leben in der Fremde zu stabilisieren, die Ausflüge nach Rom und anderswohin und die scheinbar nichtigen Erlebnisse, durch die sich die Vergangenheit in die Gegenwart drängt, ergreifend durch Andeutung. Getrennt liegen in Olevano die Plätze und Straßen der Lebenden und, auf der Anhöhe, die Wohnstatt der Toten. In beiden Bereichen bewegt sich die Erzählerin, ohne je heimisch zu werden. Sie spricht Italienisch, trotzdem bleiben die Kontakte sporadisch, eher fühlt sie sich den Afrikanern verwandt, die am Bahnhof herumstehen oder mit einer Tüte Wollsocken durch die Gassen ziehen, um sie zum Kauf anzubieten.

Die Ruhelosigkeit einer Verletzten

Esther Kinsky beobachtet und fotografiert, was Misstrauen erregt. Eines Tages verliert sie auf dem Friedhof das Kabel für den Auslöser der alten Kamera, ein „kleines Stück Damals, das so tun soll, als könnte es das Präteritum am abgebrochenen Ufer des Präsens festmachen. Faule Listen der Verlorenheit, die nicht weiß, wohin mit sich selbst.“ Sie findet es wieder am Fuß der Grabplatte einer Toten mit Namen Maria Tagliacozzi, über die sie dann etwas herauszufinden versucht, als könne die Geschichte dieser Frau sich in die eigene hineinweben, die aus lauter losen Enden besteht.

In diesem Schweifen, diesen Abwegen erscheint der Text als Niederschrift unsicherer Worte, die die Ruhelosigkeit einer Verletzten dokumentieren (und mit großer Sicherheit gewählt sind). Das Kapitel „Hände“ etwa beginnt mit dem Satz „Jeden Morgen wache ich in einer Fremde auf“ und fährt fort mit der Beschreibung alltäglicher Verrichtungen.

Während die Erzählerin aus dem Fenster schaut und wartet, dass das Kaffeewasser kocht, fällt ihr Blick auf ihre Hände und sie meint, in den Zwischenräumen der Finger die Hände ihres Mannes zu sehen, seine „Sterbehände“, die so anders waren als die „Lebehände“. Nur selten gestattet sie sich so intensive und emotionale Szenen, vielmehr wirken Protagonistin und Buch oft spröde, verschlossen, zweifelnd, ja störrisch. Beide geben sich nur in Grenzen preis, sind nüchtern und anrührend in eins, darin besteht die Kunst der Schriftstellerin Esther Kinsky.

Der Vater stirbt

Das zweite Ensemble ist dem Vater gewidmet, der Italien liebte und mit der Familie alle Ferien dort verbrachte. Durchaus zugewandt, will er doch oft allein sein bis zum stundenlangen Verschwinden. Geredet wird nicht darüber. Andererseits vermittelt er den Kindern, wie sehr man sich begeistern kann für ein Mosaik, die etruskische Kultur, das Schwimmen im Meer. Seine Leidenschaften schirmen ihn ab gegen die trübe Welt, machen ihn aber auch blind für die Neigungen der Kinder.

Die Geschichte der letzten Begegnung von Vater und Tochter ist so unspektakulär wie herzzerreißend. Sie treffen sich in Triest, dem Grenzort, aber ihre Worte erreichen den anderen nicht. Kurz darauf stirbt der Vater. Jahre später fügt Kinsky eine Schilderung der Mosaiken von Ravenna in dieses Buch ein, als Versuch, auszudrücken, was der Vater sah und empfand. Ein Dank, eine Versöhnung.

Unruhe als Handlungskern

Im letzten Teil erkundet sie einen selbst gewählten Ort, die Stadt Ferrara und das Po-Delta, Schauplätze der Romane von Giorgio Bassani, die man auch in Deutschland dank der Treue des Wagenbach Verlags immer noch kaufen kann. Vor einem halben Jahrhundert entstanden, sind sie eindrucksvoll geblieben, und Elia Corcos oder Micòl Finzi-Contini durch Ferrara zu folgen, kann auch heute ein großer Genuss für ihre Leser sein. Esther Kinskys Wanderungen zeigen ein anderes, eigenes Ferrara, für sie bleiben Romane und Realität getrennt: einer erborgten Wehmut will sie nicht nachspüren. Das ihr entsprechende Gelände entdeckt sie im nahen Po-Delta, den flachen, von Kanälen durchzogenen Valli, deren immense Weite sich ins Meer verliert.

Im Durchstreifen und Beobachten erweist sich die Unrast als Handlungskern dieses „Geländeromans“. „Gelände“ ist nicht „Landschaft“, taugt aber zum Seelenspiegel, da es menschliche Spuren trägt. Vielfach erinnert Italien hier an die Schauplätze alter Schwarz-Weiß-Filme, an Viscontis „Ossessione“ oder Antonionis „Il Grido“. Kinskys Schreibweise sucht nie den Effekt, ihre Dunkelheit ist nicht aufdringlich, sondern entsteht durch die Lücken und Abbrüche.

Die Farbe Blau

An den Schlussseiten, „Lamentatio“ betitelt und kursiv gedruckt, lässt sich noch einmal ihre Intensität und Wirkung bewundern. Sie beschreibt eine Predella Fra Angelicos, auf der die Beweinung Franz von Assisis durch die Klosterbrüder zu sehen ist. Vielfach ist in diesem Buch von der Farbe Blau die Rede gewesen, der Vater hat den Kindern erklärt, wie einst das kostbare Lapislazuli gewonnen und als Pulver zu Farbe gerührt wurde, um Heilige und Heiliges zu schmücken. So erscheint auf dem Himmel dieses Totenbilds ein Lapislazuli-Dreieck als Symbol Gottes, doch es hellt den Schmerz der Hinterbliebenen nicht auf. Die „Starre der Untröstlichkeit“ hält die Mönche gefangen. Untröstlichkeit grundiert Kinskys Text, die Starre hat sie schreibend verlassen.

Esther Kinsky: Hain. Geländeroman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 287 Seiten, 20 €.

Gisela Trahms

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