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Nachtgeschöpf. Martha Argerich. Foto: dpa

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Kultur: Gut gefühlt, Löwin

So souverän spielt niemand auf Risiko: Zum 70. Geburtstag der großen argentinischen Pianistin Martha Argerich

Ein Künstlerleben, ausgelöst durch einen Vierjährigen: Im Kindergarten, damals, 1944 in Buenos Aires, wird die kleine Martha Argerich täglich von einem ihrer Spielkameraden getriezt. „Wetten, du kannst nicht auf einem Bein über den Hof hüpfen?“ Sie kann. „Wetten, du kannst nicht unter der Bank hindurchrobben?“ Sie kann. „Wetten, du kannst nicht Klavier spielen?“ Martha geht zum Instrument, klappt den Deckel hoch und spielt fehlerfrei die Melodie eines der Wiegenlieder nach, die den Kindern regelmäßig vorgesungen werden. Es ist ihr allererster Kontakt mit den 88 schwarzen und weißen Tasten.

Immer noch starr vor Erstaunen berichtet die Erzieherin den Eltern nachmittags von ihrem Wunderkind. Der Vater zeigt sich gar nicht überrascht – er habe ja schon immer gespürt, dass seine Tochter ein Genie sei. Dass aus der Begabung eine Weltkarriere wird, dafür sorgt allerdings die Mutter. Mit einer Beharrlichkeit, die an Leopold Mozarts Umgang mit seinem Wolferl erinnert, treibt Juanita Argerich die Ausbildung der Tochter voran. 1955 siedelt die Familie nach Europa über, Martha wird Schülerin von Friedrich Gulda, erringt zwei Jahre später bei Klavierwettbewerben in Bozen und Genf erste Preise, erreicht mit 24 den Gipfel frühen Ruhms, als sie den Chopin-Wettbewerb in Warschau für sich entscheidet.

Seitdem fasziniert keine Interpretin die Piano-Fans in aller Welt so wie die Argentinierin. Durch ihre künstlerische Kompromisslosigkeit, durch ihre Kombination von Natürlichkeit und atemberaubender Virtuosität. Lässig und brillant, exzentrisch und berührend, traumverloren und abgründig – so souverän wie sie spielt niemand auf Risiko.

„Unter den Großen der Zunft gebietet kaum jemand über ein derartiges Klangfarbenspektrum und so reichhaltige dynamische Nuancen wie Martha Argerich“, beschreibt Klavier-Kenner Jürgen Otten die technische Seite des Phänomens. „Ihr Spiel kam von jeher einem Naturereignis gleich, ist aber das Ergebnis intensiven Nachdenkens über die Stücke.“

Dass es sich lohnt, nach der „Herzfrequenz“ zu suchen, die jede Komposition besitzt, hat sie von Friedrich Gulda gelernt. Vor allem nachts versenkt sich Martha Argerich stundenlang in die Werke, spürt der Musik von Ravel und Schumann, Beethoven und Liszt, Prokofiew, Bartok und natürlich Chopin nach. Da passiert es schon mal, dass sie ihre eigene Party in ihrem Brüsseler Wohnhaus verlässt, um sich im oberen Stockwerk zum Zwiegespräch mit ihrem Flügel zurückzuziehen, während die Gäste im Erdgeschoss weiterfeiern. Im Mittelpunkt zu stehen liegt ihr sowieso nicht. Darum macht sie so gerne Kammermusik mit jungen Menschen oder mit alten Freunden wie dem Cellisten Mischa Maisky und dem Geiger Gidon Kremer, seit 2006 auch bei ihrem eigenen Sommerfestival in Lugano. Zu ihren Lieblingsdirigenten gehören Claudio Abbado und Charles Dutoit, mit dem sie auch verheiratet war.

Gerade vor solistischen Auftritten mit Orchester allerdings muss man die furchtlose Interpretin oft zum Jagen tragen. In den fünf Jahrzehnten ihrer Karriere soll sie mehr Konzerte abgesagt als tatsächlich gegeben haben. Olivier Bellamy, dessen „erste autorisierte Biografie“ rechtzeitig zum heutigen 70. Geburtstag der Künstlerin in deutscher Übersetzung erschienen ist, berichtet, dass die Zähne der jungen Pianistin vor jedem Schritt ins Rampenlicht wie „Kastagnetten klapperten“. Diese Angst konnte sie bis heute nicht besiegen.

„Es gibt zwei Dinge, die meine Schwester auf den Tod nicht ausstehen kann“, hat Carique Argerich verraten, „Komplimente, und wenn man ihre Haare berührt.“ Biograf Bellamy fühlt sich von der üppigen, tiefschwarzen Haarpracht der Künstlerin tatsächlich an eine stolze Indianersquaw erinnert. Die charakteristische Frisur, die ihr Gesicht mit den sinnlichen Lippen so schmal wirken lässt, trägt sie noch heute – wenn auch inzwischen in vielfachen, ungeschönten Grauschattierungen.

Gerade weil im Tierreich solche herrlichen Mähnen nur männlichen Leittieren vorbehalten sind, ist der Titel der Biografie so treffend: „Martha Argerich – die Löwin am Klavier“. Frederik Hanssen

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