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Guntram Vesper gewinnt den Leipziger Belletristik-Preis 2016.

© dpa/Volker Poland/Verlag Schöffling & Co.

Guntram Vespers Roman "Frohburg": Kleinstadtosten, früher

Ein Panorama deutscher Geschichte vom Kaiserreich bis 1957 – und ein Landmeer aus Text. Guntram Vespers "Frohburg" ist ein starker Memoirenroman.

Im August 1943 genießen die Einwohner der westsächsischen Kleinstadt Frohburg ihr „Felsenbad“, das aus einem überfluteten Steinbruch entstand. Unter der Patenschaft von Hermann Göring hatte es der Reichsarbeitsdienst rechtzeitig zur Olympiade 1936 errichtet, einschließlich zweier imposanter Fahnenstangen für NS-Ehrentage. Von den plaudernden Eltern auf der Liegewiese unbemerkt, macht sich ein Zweijähriger selbständig und fällt vom Steg ins Wasser. „Hätte nicht Frenzel Erich, Thälmannkommunist, zwischen zwei KZ-Aufenthalten von neununddreißig bis Herbst dreiundvierzig frei, heute Bürgermeister, das zuckende gurgelnde Küken vom Steg aus gesehen, der kleine Junge wäre jämmerlich ertrunken, am hellen Nachmittag, im Volksgewimmel des gutbesuchten Bades“, erklärt ein gewisser Fritz Lachert 1953 dem Schriftsteller Erich Loest beim Stadtrundgang. Wie sein früher Lieblingsschriftsteller Karl May schwebt der 2013 verstorbene Loest als guter Geist über Vespers Großroman „Frohburg“, beide garantieren sein spezifisch sächsisches Ingenium. „Guntram hieß der gerettete Junge“, ergänzt der Cicerone, „komischer Name, hat aber schon Schule gemacht“.

Derart lakonisch und verhalten komisch lässt Vesper sich selbst immer wieder in seinem tausendseitigen Text voller überraschender Wassermetaphern auftauchen. Der Autor wird gleichsam zu einem Anekdoten-Kiesel unter vielen im unbändigen Erzählfluss des „ausufernden Frohburgromans“, wie er gegen Ende selbstkritisch einräumt. „Die Inseln im Landmeer“ heißt ein Gedichtband Vespers von 1982, gefolgt von „Frohburg. Gedichte“. „Die genaue Metapher genügt, den historischen Moment zu fixieren“, lobte Ludwig Harig diese Poeme, die sich im Rückblick wie Zuflüsse zu diesem einen Roman lesen, mit dem Vesper sein literarisches Lebenswerk krönt. Als Insel im „Landmeer“ der Makro-Historie wie der Mikro-Geschichten, vor allem aber eigener Gedanken und Erinnerungen hat er seinen 5000 Einwohner zählenden Geburtsort an der Wyhra, einem Nebenfluss der Pleiße, wohl immer betrachtet: „Die Kleinstadt mit ihren fünfzehn Straßen und fünfhundert Häusern war scheinbar leicht zu überblicken, zu durchschauen, vieles, was geheim bleiben sollte, wurde bekannt, ließ sich nicht verbergen, und doch gab es genug Ecken des Zwielichts und Zonen, in denen tasten, vermuten und rätseln angesagt war.“

„Frohburg“ haftet etwas Privatistisches bis Solipsistisches an

Bereits in der zweiten Klasse fiel der Sohn des Arztes Wolfram und Enkel des schnauzbärtigen Tierarztes Julius Vesper und dessen Frau Elsa durch seine Merkfähigkeit auf. „Endlos schrieb ich Geschichten, die vor dem Schreiben lagen“, bekannte Wolfgang Hilbig, der 1941 im sächsischen Meuselwitz geboren wurde, für ihn die „Kleinstadt des ewigen Nachmittags“. Dem gleichaltrigen Vesper muss es ähnlich gegangen sein – „verwischt, verblasst der Einminutenfilm“, ärgert er sich, als ihm nicht mehr einfällt, ob ihm einst die Leipzigerin Anne vom Ruderboot aus zugewunken hat.

Dem Prosaunternehmen „Frohburg“ haftet etwas Privatistisches bis Solipsistisches an. Ausgangspunkt ist der Tod von Vespers jüngerem Bruder Ulrich im Jahr 2012. Der Schriftsteller und seine Frau reisen aus Göttingen an, um den Nachlass des Bibliophilen zu sichten und stoßen unter anderem auf Signaturen von Hans Mayer und Ernst Bloch – schon setzt sich die Prosamaschinerie in Gang, die phantasiereiche Korrektur jener Geschichten, „die ich als Kind vorgebetet, eingeredet, eingetrichtert bekam“ und die sich meist als falsch erwiesen hätten. Listig stellt der Autor seinem Buch einen Ausspruch Fontanes voran: „Für etwaige Zweifler also sei es Roman!“

Man merkt Vespers ins Fiktive ausgreifenden, rhizomartig austreibenden Memoiren an, dass er sie lange nur für sich selbst festhielt, einschließlich Seitenhieben auf Zeitgenossen. Entweder amüsiert er sich über deren Prahlerei (Grass!), bezichtigt sie der Stasi-Mitarbeit (diverse) oder neidet ihnen ihren späten Ruhm wie im Fall des Freundes Walter Kempowski. Hinzu kommt der wenig einladende Satzspiegel: Über zwanzig, dreißig, einmal gar 145 Seiten reihen sich die Textkolonnen der Vesperschen Assoziationsketten ohne Absatz aneinander, von einer Kapitel-Einteilung zu schweigen. Das erinnert an vorbeirasende Güterzüge oder an ein Radio, das man nicht abstellen kann.

Man darf sich nicht von dem "Landmeer" aus Text abschrecken lassen

Trotzdem entfaltet „Frohburg“ einen großen Reiz. Das liegt daran, dass Vesper ein gewaltiges Panorama deutscher Geschichte vom Kaiserreich bis 1957, als die Familie in den Westen ging, in Anekdoten von sprachlich glasklarer, erratischer Schönheit fasst. Zudem schafft er es trotz aller Abschweifungen stets zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Das Hauptquartier aller erzählerischen Unternehmungen ist dabei das Esszimmer der Großeltern, die sechzig Jahre lang einen Geschäftshaushalt führten: „Mittags wurde eine Etage tiefer, im ersten Stock, gegessen, wo neben der großelterlichen Küche das langgestreckte Speisezimmer lag, eine Art kleinstädtischer Salon, in dem auch unerwartete Besucher platziert und abgefertigt wurden. Aber nur, wenn sie nicht in tierärztlichen Angelegenheiten kamen. Dann nämlich gab es im Hochparterre gleich neben der Haustür das sogenannte Sprechzimmer mit der Vitrine für die griffbereit drapierten Instrumente und fünf, sechs Tierschädel, vom Fuchs, vom Dachs und von der Katze, sogar von Eichhörnchen und Maus. Gebleichtes Bein, von blitzendem Chromstahl umgeben. Zarteste Formen, ziselierte Kurvenlinien, Fissuren wie allerfeinste Bleistiftstriche.“

„Gomm se midd“ heißt es lautmalerisch im „breiigbreiten Dialekt“ der Gegend, die vom Braunkohletagebau bedroht ist, aber ebenso – wie die gesamte Sowjetische Besatzungszone – unter dem „allgemeinen, jahrzehntelangen Schweigen“ leidet. Dieses durchbricht Vesper virtuos und machtvoll: Sei es, indem er an die Exekutionen im thüringischen Küllstedt erinnert, die die Rote Armee im Juli 1945 unter den Dorfbewohnern vornahm, sei es der Juni-Aufstand 1953, in dessen Wirren der gebürtige Frohburger und Stellvertreter Walter Ulbrichts Otto Nuschke versehentlich in den Westen geriet. Über den lebensfrohen Nuschke („der allde Lusdmolsch“), Mitbegründer der Ost-CDU, springt der Erzähler zu dessen Parteifreund Georg Dertinger. Der DDR-Außenminister wurde im Januar 1953 ohne Grund verhaftet. Den emsigen Chronisten Vesper interessiert besonders das Schicksal von Dertingers Kindern, die verschiedenen Pflegefamilien zugewiesen wurden.

So wird der Roman immer wieder zu einem Mahnmal politischer Willkürakte quer durch die Systeme. Wie unter einer Glasglocke ist hier ein altdeutscher Mikrokosmos zu besichtigen, der „Kleinstadtosten“ voller kriminalistischer Spannung und aufblitzender erotischer Momente. Selbst einen echten Mörder hat „Frohburg“, wie die latente Schlangengefahr geistert er durch die Zeilen und Zeiten. Man darf sich nur nicht von dem „Landmeer“ aus Text abschrecken lassen.

Guntram Vesper: Frohburg. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 1008 Seiten, 34 €.

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