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Eine Polizeischülerin trainiert am 18.11.2013 auf einem Schießstand in Berlin.

© Rainer Jensen/dpa-bildfunk

"Gun Love" von Jennifer Clement: Wer im Auto lebt, hat vor nichts mehr Angst

Parabel auf ein waffenstarrendes Land: Jennifer Clements anrührend-brutaler Roman „Gun Love“.

Selbst wer die Welt eines Rappers wie Eminem oder überhaupt das Milieu des sogenannten White Trash, der verarmten weißen Bevölkerung der USA, einigermaßen kennt, dürfte bei der Lektüre allein der ersten Kapitel von Jennifer Clements Roman „Gun Love“ gar nicht anders können, als „krass, krass, krass“ vor sich hinzumurmeln.

Nachdem Clement auf der ersten Seite kurz das kommende große Unglück skizziert, das die Mutter ihrer Ich-Erzählerin Pearl heimsuchen wird und damit auch das ihrer Tochter, erzählt Pearl von ihrem gewöhnlichen, von ihr selbst kaum als solches wahrgenommenen Unglück und stellt sich so vor: „Ich? Ich wuchs in einem Auto auf, und wenn man im Auto lebt, hat man keine Angst vor Blitz und Donner, das Einzige, wovor man Angst hat, ist der Abschleppwagen. Als meine Mutter und ich in den Mercury zogen, war sie siebzehn und ich gerade geboren. Unser Auto stand am Rande eines Trailerparks mitten in Florida und war das einzige Zuhause, das ich je hatte. Wir lebten von einem Moment zum anderen und machten uns kaum Gedanken um die Zukunft.“

Waffen sind das Leitmotiv dieses Romans

Das ist hart, dafür braucht es eine gewisse Abgebrühtheit beim Lesen (selbst wenn Clement auch poetische Momente bereithält), das will in jedem Fall sofort weitergelesen werden. Und Pearl, die ganz weiß ist und geradezu durchsichtige Haut hat, oft „Albino“ genannt wird und mit elf Jahren aufgehört hat zu wachsen, erzählt dann von der Silberner-Löffel-Vergangenheit ihrer Ausreißer-Mutter, von deren Job im Veteranenkrankenhaus, von ihrem eigenen Alltag im Trailerpark und von dessen anderen Bewohnern, die immerhin einen Wohnwagen haben.

Befreundet ist sie vor allem mit der zwei Jahre älteren April May, deren Eltern der Afghanistan-Veteran Sergeant Bob und seine Frau Rose sind. April May ist so eine Art Bestimmerin für Pearl, nur die Schulaufgaben, die macht Pearl für sie. Dann leben hier noch das Mexikanerpärchen Ray und Corazón, eine Dame namens Roberta Young mit ihrer 30 Jahre alten Tochter, die nie zur Schule gegangen ist, und Pater Rex. Pearl fühlt sich wohl in diesem sozialen Umfeld, doch problematisch ist es allemal. Denn fast alle haben sie mit Waffen zu tun, sei es, dass sie sich untereinander damit beschenken, sei es, dass sie auf Alligatoren oder die Polizei schießen, sei es, dass sie mit der Flinte auf dem Schoß im Gottesdienst sitzen, sei es, dass sie diese kaufen und verkaufen.

Pazifismus ist keine Utopie

Clements Roman, dessen Prosa aus einem größtenteils kongenialen Kurzsatz-Stakkato besteht, heißt mit gutem Grund „Gun Love“. Die Waffen sind sein Leitmotiv, und letztendlich ist dieser Roman eine gelungene Parabel auf ein Land, in dem die National Rifle Association trotz der vielen Amokläufe, trotz zahlreicher Sniper und kindlicher Todesschützen einen gewichtigen Ton angibt. Kein Präsident vermag gegen diese Waffenlobby etwas auszurichten. Pearl ist den Anblick von Waffen gewohnt, sie wächst damit auf. Selbst als ihre Mutter sich in einen Schwerkriminellen verliebt und dann erschossen wird, will sie sich auf ihrem weiteren, erst zu einem Pflegevater, dann nach Mexico führenden Weg nicht von der Waffe ihrer Mutter trennen. So waffenstarrend dieser Roman sein mag, so anrührend ist er, so gut vermag sich Clement in das Gefühls- und Traumleben ihrer Heldin zu imaginieren.

Doch allein das Schlussbild, als Pearl auf einer Autorückbank versteckt unter lauter Waffen über die Grenze gebracht wird („Ich lag zwischen den Toten, den bisherigen und denen, die noch kamen“), zeigt an, dass weder Clement noch ihre Heldin an eine weniger gewalttätige Welt glauben. Pazifismus taugt da nicht mal mehr als Utopie.

Jennifer Clement:Gun Love. Roman..Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 251 Seiten, 22 €. Ab 14 Jahren.

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