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Riccardo Muti beim Neujahreskonzert, 2018.

© Hans Punz/dpa

Guilty Pleasures (9): Das relative Gehör

Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Aber schreiben. In der Serie Guilty Pleasures schauen wir in unsere Kitschecken. Teil 9: der Donauwalzer.

Er gilt als die Landeshymne Wiens, der Walzer „An der schönen blauen Donau“. Aber ich gebe zu, der schwungvolle Dreivierteltaktdreher von Johann Strauss Sohn ist auch meine heimliche Hymne. Das Ritual, das sich dazu in letzten Monaten entwickelt hat, kann ich bedingt, aber nicht komplett auf Corona schieben.

Mein Verhältnis zu Strauss, zu klassischer Musik und zu Walzern ist sonst eher lose, meine Ohren sind mehr an elektronische Kompositionen gewöhnt, meine Glieder an freies Tanzen, wenn es um definierte Schrittfolgen geht, gehörte ich schon in der Tanzschule nicht zu den Besten. Wegen dieser kumulierten Inkompetenz ist mir das, was wir dem Strauss-Walzer und seinen Interpreten antun, etwas peinlich. Aber es macht so viel Spaß.

„An der schönen blauen Donau“ wird im Wiener Neujahrskonzert traditionell vor dem Radetzky-Marsch gespielt und im Fernsehen ausgestrahlt. Ich habe mir das noch nie angesehen, aber die digitale Musikspeicherung bringt es mit sich, dass wir in unserem Haushalt über eine Sammlung aller Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker seit 1978 verfügen. Nicht weil wir dafür besonders schwärmen, eher, weil es die Technik möglich macht.

An ereignisarmen Corona-Abenden skippen wir manchmal durch unsere Musiksammlungen. Dabei wurde irgendwann der Donauwalzer angespielt. Der Rest ergab sich und hat sich verfestigt. Wir haben begonnen, die Live-Aufnahmen der verschiedenen Jahre zu vergleichen.

Das heißt, wir hören den Walzer Dutzende Male, von unterschiedlichen Dirigenten geleitet, Daniel Barenboim, Zubin Mehta, Riccardo Muti, Gustavo Dudamel, Herbert von Karajan, Claudio Abbado. Nichts anderes aus dem Neujahrskonzert, immer nur den einen Walzer.

Muti ist der Beste

Wir hören ihn laut, gestikulieren zu Streichern, Piccoloflöte und Kontrabass – und fachsimpeln. Wie gut, dass wir uns einig sind: Muti ist der Beste. Keiner dirigiert den Donauwalzer so wienerisch wie der Italiener.

Die Streicher dürfen cremig ineinanderschmelzen wie Wiener Melange, die Pausen nach dem dim dim und dom dom werden aufreizend in die Länge gezogen, die Flöten perlen fröhlich. Andris Nelsons präsentiert das Stück 2020 dagegen eckig, ja kühl, die Triangel klirrt, das sprudelnde Blubb des Flusses wird zu einem dunklen Plong. Thielemann macht unseren schönen Ohrwurm zur geglätteten Filmmusik, er führt alles viel kleiner aus, finden wir. Abbados elegante Großstadt-Variante ist gut, aber kein Vergleich mit Muti.

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Muti hat das Stück an Neujahr bereits sechs Mal dirigiert, zuletzt 2021 im pandemiebedingt leeren Konzertsaal. Höchstleistung für unsere Dilettanten-Ohren ist es, die Unterscheide in seinem Dirigat wortreich zu beschreiben. Manchmal tanzen wir auch dazu, so gut wir es eben können. Mir wird oft schwindelig, weil das Drehen linksrum nicht so gut geht. Dieses Event findet stets unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Allerdings kann man uns hören. Die Nachbarin erwähnte neulich höflich unseren Walzerabend, der ihr wesentlich lieber ist als der Elektrokram, den wir ihr sonst manchmal zumuten.

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