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Keiner will Werbung in seinem Briefkasten, unser Autor aber schon.

© picture alliance / dpa

Guilty Pleasures (8): Die Seele der Dinge

Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Aber schreiben. In der Serie Guilty Pleasures schauen wir in unsere Kitschecken. Teil 8: Werbewurfsendungen.

Dass mit mir etwas nicht stimmen kann, sieht man schon an meinem Briefkasten. Während an allen umgebenden Metallboxen Aufkleber mehr oder weniger freundlich darum bitten, hier keine Werbung einzuwerfen, muss ich mich beherrschen, keine freudige Einladung zu formulieren: Bitte alle Reklame zu mir! Nie würde ich die unverlangt eingeworfenen Sendungen unbesehen und voller Verachtung in den Kübel unter den Briefkästen feuern. Ich trage alles in meine Wohnung, löse den bunten Inhalt vorsichtig aus Folien oder Umschlägen und ziehe mich mit meiner Beute aufs Sofa zurück.

Werbung hat schon immer eine magische Anziehung auf mich ausgeübt. „Väter der Klamotte“ schauen, schön und gut – aber nur, wenn davor und danach noch die Fernsehwerbung drin war. Meine Schwester und ich sangen nicht die Titelmelodien von Vorabendserien nach, wir schmetterten mit anhaltender Begeisterung Werbejingles. Später fuhr ich quer durch Berlin ins Kino, um dort die Cannes-Rolle zu sehen, einen ganzen Abend lang nur Werbung aus aller Welt. Diese wirre Schnipsel-Parade mit ihren Pointen im Sekundentakt vermittelte mir bereits vor allen Auslandsreisen die wichtige Botschaft, dass Humor von streng regionaler Wirksamkeit sein kann.

Mit dem Testheft gegen die Lockungen des Konsums

Mein Vater versuchte standhaft, den Lockungen des Konsums mit seinem Abonnement von „Stiftung Warentest“ einen rationalen Riegel vorzuschieben, während ich Kataloge zu allen möglichen Themen heimschleppte: Modellbauschiffe, Angelruten, Briefmarkenalben und Hifi-Anlagen betraten mein Leben zuerst in Form von Werbemitteln, die irgendwie auch besser waren als alle realen Produkte, die mühsam im Ringen mit „Stiftung Warentest“ erstritten werden mussten. Mir schien es, als verkörpere die Werbung die reine Seele der Dinge und nicht ihre irdischen Gebrechen, ihr Verblassen und Versagen im unerbittlichen Trott des Alltags.

Eine Zeit lang galt es bei Talkshow-Moderatoren als besonders volksnah, ihre prominenten Gäste danach zu fragen, ob sie eigentlich wissen, was denn gerade ein Paket Butter koste. Für mich war es unerträglich zu sehen, wie manche sich da herauszuwinden versuchten. Aus meinem jahrzehntelangen Inseratenstudium könnte ich dagegen fein differenzierte Antworten liefern: für Bio- oder Weidebutter, regionale oder europäische Ware, mit oder ohne Salz, im Papier oder in der Plastikbox. Nur fragt mich keiner danach, wie auch niemand mit mir auf Beutezug zum Discounter gehen will.

Dieser raue Charme der Discounter

Dort fühle ich mich wohler als in notdürftig aufgehübschten Lebensmittelläden, von denen ich weiß, dass sie ihre Mitarbeiter noch mieser bezahlen. Der raue Charme der Discounter hingegen löst bei mir ähnliche Gefühle aus, wie in Venedig zur Mittagszeit in eine Trattoria zu geraten, in der Bauarbeiter ihr wohlverdientes Essen zu sich nehmen. Ich mag es, dass sich zweimal in der Woche das Angebot und damit Balance und gefühlte Temperatur im Laden schlagartig verändern, hier durchwühlte Boxen entstehen, dort plötzlich Löcher klaffen. Eine andere Art von Warentest. Am Ende der Patrouille stecke ich natürlich die Werbung für nächste Woche ein.

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