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Sie taten (noch) nichts Unrechtes. Mae West und Cary Grant in „She Done Him Wrong“ von 1933.

© Paramount Pictures / Photofest

Große Film-Retrospektive im Berliner Arsenal: Die scharfen Dreißiger

Hollywood, unzensiert: Das Kino Arsenal am Potsdamer Platz zeigt in einer Retrospektive die sogenannten Pre-Code-Filme aus einer Zeit ohne moralische Restriktionen.

In Kansas war das Trinken auf der Leinwand verboten. In Pennsylvania durfte zur Schonung storchengläubiger Kinderseelen keine Schwangerschaft im Bild erscheinen. Und dem für das damalige Filmgeschäft bedeutenden New Yorker Markt war Bestechlichkeit von Behörden als Filmthema ein rotes Tuch. Die Hälfte des Filmsektors unterlag in den USA der 1920er Jahre derartigen Restriktionen. Für die Produzenten in Hollywood war dies ein Graus und das Nachbessern an fertigen Kopien ein nicht geringer Kostenfaktor. Dazu kam der andauernde Druck wertkonservativer Kreise um Kirchen und die moralisch-religiöse Organisation „Legion of Decency“.

Abhilfe fand die Filmindustrie in Versuchen, mit der 1921 gegründeten Vereinigung der „Motion Picture Producers and Distributors of America“ in freiwilliger Selbstkontrolle Restriktionen und drohenden staatlichen Zensurmaßnahmen zuvorzukommen. Es war eine mit den Jahren ständig verschärfte Selbstzensur, die allerdings erst in ihrer letzten, mit Strafgeldern ausgestatteten Fassung von 1934 wirklich wirksam und zum Standard für die US-Filmproduktion der nächsten Dekaden wurde. Der Reigen der Ver- und Gebote des nach ihrem ersten Chefbeamten William Hays „Hays-Code“ genannten Sündenkatalogs reichte dabei vom unzüchtigen Kostüm bis zur Flaggenächtung und umfasste sexuelle, religiöse, politische und soziale Aspekte.

Der Kater nach dem Rausch der Goldenen Zwanziger

Einige kurz zuvor produzierte Filme wie Ernst Lubitschs „Trouble in Paradise“ (1932) oder William A. Wellmanns Gangstergeschichte „The Public Enemy“ (1931) sind trotz dieser auch den damaligen Filmbestand betreffenden Zensur zu Standards der Filmgeschichte geworden. Andere fielen dem Vergessen anheim, wie „Baby Face“ (1933, Regie: Alfred E. Green), dessen unzensierte Fassung erst 2004 in der Library of Congress wieder entdeckt wurde – und jetzt zur Eröffnung einer großen Retrospektive dieser sogenannten Pre-Code-Filme im Berliner Arsenal in restaurierter Fassung zu sehen war.

Die von Annette Lingg verantwortete Reihe umfasst unter dem Titel „Let’s Misbehave! Hollywood vor dem Hays-Code 1930-1934“ insgesamt 30 Filme aus den letzten Jahren vor der Implementierung des Regulariums. „Baby Face“ repräsentiert mit Personal und Plot gut die ganze filmhistorische Abteilung, die von den Auswirkungen des Börsensturzes 1929 und der folgenden Depression gezeichnet war und offen wie selten materielle Nöte und sich daraus ergebende Erwerbsmodelle thematisierte. In diesem Film ist es die von Kunden und Vater bedrängte Gastwirtstocher, die nach harter Jugend und forschen Ratschlägen eines väterlichen Nietzscheaners („Use men, don’t be used by them“) nach New York durchbrennt und sich im dortigen Bankgewerbe Etage für Etage nach oben schläft. Bemerkenswert (und der Zeit Jahrzehnte voraus) ist dabei auch, wie Lilys afroamerikanisches Hausmädchen fast zu einer echten Freundin wird.

Ja, eigentlich sind die sogenannten Pre-Code-Filme in Wirklichkeit Post-Depressions-Filme, die mit viel bitterem Humor und einigem sozialen Realismus den Kater nach dem großen Roaring-Twenties-Rausch bejaulen. Ihre weiblichen Heldinnen sind, wie Lily, oft sogenannte Gold Digger, die ihre weiblichen Reize skrupellos einsetzen – wobei das Spektrum von der blanken Prostitution bis zur Versorgungsehe reicht und das Lächeln meist ebenso falsch ist wie die Liebesschwüre: Doch sind dies keine Femme Fatales, wie die „bad girls“ des Film Noir eine Generation später, sondern einfach junge Frauen, die versuchen, ihren Platz in der Welt zu finden. Dabei wirbeln Aufstiegsstrategien und Überlebensängste so durcheinander wie die Beine der Revuemädchen auf der mit einem riesigen Dollarsymbol dekorierten Bühne in Mervyn LeRoys wunderbarem „Gold Diggers of 1933“.

Wie lange durfte ein Kuss dauern?

Die männlichen Überlebensmodelle – vom Werbefritzen über den Unternehmensberater bis zum Gangster – sind ähnlich modern, riskant und windig. In „Hard to Handle“ (1933) von Mervin LeRoy gibt James Cagney einen alerten Geschäftsmann, der mit Schatzsuchen, Dauertanzwettbewerben und Schlankheitscremes sein Glück versucht: „My code is smash or be smashed“, sagt der von Warren William gespielte Kaufhausleiter in Roy del Ruths „Employees’ Entrance“ (1933).

Mit dabei sind auch zwei Filme der Artistin, die als popkulturelles Symbol des 30er-Jahre-Laissez-Faire gelten kann und mit ihrem Karriereweg vom Broadway-Vaudeville nach Hollywood die Spur vieler früher Tonfilmdarsteller aufzeigt: Mae West, deren erster auf einer eigenen Show beruhender Film „She Done Him Wrong“ (1933) aus 200.000 investierten Dollar schon bald drei Millionen machte und so auch Hollywood zur Fortführung reizte.

Der in Filmgeschichten gern kolportierte Zusammenhang von Wests Aufstieg mit den Aktivitäten der Zensoren scheint nach neueren Recherchen so nicht mehr haltbar. Auch sonst gibt es viele Mythen um den – 1967 abgeschafften – Hays Code, etwa die angeblich sekundengenau begrenzte Höchstdauer eines Kusses. Sicher ist zumindest, dass die Selbstregulation (etwa auch im Modell der FSK) nicht nur die amerikanische Filmlandschaft grundlegend veränderte. Und es stimmt auch, dass die geforderten Änderungen manchmal durch das Gebot zur ästhetischen Verdichtung auch zur künstlerischen Verfeinerung beitragen konnten. Berühmtestes Beispiel ist wohl „Casablanca“, wo die von der Zensur geforderten Einschnitte in das Liebesleben der Helden erst die Fallhöhe herstellten, die den Kultstatus des Film begründet.

Let's Misbehave! Hollywood vor dem Hays-Code 1930-1934, Arsenal, bis 31. Juli

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