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Rabiate Schwarzmalerin. Die Schriftstellerin Sibylle Berg, 56.

© Katharina Lüscher/KiWi

"GRM. Brainfuck" von Sibylle Berg: Alles am Ende

Mit pornografischen Mitteln gegen die Pornografie: Sibylle Bergs Roman „GRM. Brainfuck“. Ein Roman wie eine lange Kolumne, aber mit erstaunlicher Wirkkraft.

Auch nach dem Brexit regnet es ständig – zumindest auf das schlechte Wetter ist in England Verlass. Ansonsten hat die Gesellschaft, die Sibylle Berg in ihrem neuen Roman „GRM. Brainfuck“ beschreibt, nach dem Austritt aus der EU und der Auflösung der Monarchie einen beispiellosen Niedergang erlebt. Das Land ist zum Laboratorium des Neoliberalismus verkommen, die Klassenverhältnisse haben sich verschärft: Ein wachsendes Lumpenproletariat wird nicht nur von der degenerierten Oberschicht, sondern auch von den Resten des Bürgertums verachtet, das fürchtet, bald selbst auf der Straße leben zu müssen.

So entfesselt die ökonomischen Kräfte wirken, so autoritär herrscht die Staatsmacht, die alle Menschen komplett digital überwacht. Neugier und Voyeurismus gehen so weit, dass sich die Menschen ständig auch gegenseitig ausspionieren. Immer nach dem Motto: Mal sehen, wen und wie der Nachbar heute vögelt! Und jede Figur, die Berg einführt, bekommt erst mal einen Datensatz, der über Ethnie, Familienverhältnisse, Intelligenz, Hobbys, Gesundheit, Konsumverhalten, Kreditwürdigkeit, sexuelle Orientierung, politische Ausrichtung und über ein wie auch immer ausgeprägtes Aggressionspotenzial informiert.

Grime ist der passende Soundtrack zu diesem düsteren Roman.

Im Mittelpunkt von „GRM. Brainfuck“ stehen die vier Jugendlichen Hannah, Karen, Don und Peter. Die Eltern haben die Kinder jahrelang missachtet oder misshandelt. Ein Vater ist im Knast, eine Mutter mit dem reichen Lover durchgebrannt. Mal sind die Erziehungsberechtigten schon tot, mal in der Psychiatrie. Die Kinder erzählen sich ihre trostlosen Geschichten nur ungern, geht es doch ohnehin nur um „Erwachsene, die am Leben gescheitert waren“. Der verblödete und vernachlässigte Nachwuchs wird das Schicksal der Eltern meist wiederholen. Adoleszente Geschwister jedenfalls fristen ihr Dasein vor dem Fernseher oder einem mobilen Endgerät und schauen vorzugsweise Pornos. Hannah, Karen, Don und Peter aber wollen ausbrechen und ein anderes Leben führen. Hoffnung gibt ihnen zunächst eine Popmusik namens Grime, kurz GRM. Wörtlich ist der Name dieser aggressiven Mischung aus Hip-Hop und harten Elektrobeats mit „Schmutz“ zu übersetzen.

Grime wurde Anfang der nuller Jahre erfunden und ist der passende Soundtrack zu diesem düsteren Roman. Auch wenn der Rebellenkrach der Unterprivilegierten längst in Affirmation umgeschlagen ist (in der Realität wie in der Fiktion), bringt er ständig neue Youtube-Stars hervor und vermittelt Bergs Helden zumindest eine Vorstellung vom Aufstieg und Ausstieg aus der Tristesse des Alltags: „Don dachte über die Liebe nach. Das bedeutete: Sie sah weiter Pornos – wie alle, die über Liebe nachdachten. (…) Jungs lernten, wie Frauen auszusehen hatten und dass sie immer bereit waren. Dass sie herumlagen, die Frauen, und man sie lange und hart stoßen musste, um ein toller Liebhaber zu sein. Die Mädchen lernten, dass man sich als Frau verzückt winden musste, wenn einem die Brüste hart geknetet wurden und ein Penis in der Scheide herumfuchtelte.“

Hier sind alle menschlichen Interaktionen von Sex und Gewalt, von Ignoranz und Hass geprägt

Kein Wunder, dass Don, die eigentlich Donatella heißt, zu Gewaltfantasien neigt. Erziehung und Schule, Bildung und Ausbildung spielen kaum noch eine Rolle, stattdessen prägen Hass und Langeweile das jugendliche Leben, das sich in der Provinz besonders unerträglich anfühlt. Es ist gewiss kein Zufall, dass Sibylle Berg die 100 000-Einwohner-Stadt Rochdale nahe Manchester zum ersten Schauplatz ihres Romans gemacht hat. Dort kam es 2012 zu einem Prozess gegen die sogenannte „Rochdale Sex Trafficking Gang“, bestehend aus zwölf Briten pakistanischer Herkunft, die über Jahre hinweg mindestens 47 minderjährige Mädchen missbraucht hatten. Ein Untersuchungsbericht sprach damals von einem „Versagen aller sozialen und behördlichen Anlaufstellen“.

Berg muss nicht viel erfinden, um hier von sexueller Niedertracht und männlicher Gewalt zu erzählen. Es reicht ein Blick ins Online-Archiv. Daher wird sich die hyperintelligente, aber in Beziehungsdingen ziemlich naive Karen auch in einen pakistanischen Beau verlieben, der sie mit Drogen vollpumpt und ihren willenlosen Körper an infantil-geile Männergruppen verkauft. In der Zukunft, die von der Gegenwart erzählen will, sind Männer in aller Regel frauenverachtende Monster, Schläger und Vergewaltiger.

Als die Freunde begreifen, dass in Rochdale ein besseres Leben unmöglich ist, hauen sie nach London ab, tauchen unter und schließen sich einer Rebellenkommune an. Während diese versucht, sich der Überwachung durch die Geheimdienste zu entziehen und die Bevölkerung über die digitale und soziale Kontrolle aufzuklären, planen Hannah, Karen, Don und Peter einen Rachefeldzug. Der schlauen Karen reicht die persönliche Vergeltung dabei nicht. Sie möchte das Sexualhormon Testosteron eliminieren, bietet sich als billige Arbeitskraft in einem Chemielabor an, ist dem Laborchef mit Oralsex zu Diensten und stellt dann in aller nächtlichen Ruhe ein Virus massenhaft her, das – wird es übers Trinkwasser aufgenommen – die männliche Libido irreversibel ausschaltet.

Viel rabiate Schwarzmalerei macht allerdings noch keine ernsthafte Dystopie

In diesem Roman sind nahezu alle menschlichen Interaktionen von Sex und Gewalt, von Ignoranz und Hass geprägt. Berg schreibt mit großer Wut gegen die Pornografisierung des Miteinanders, und selbstverständlich enthält ihre Kulturkritik bittere Wahrheiten und groteske Pointen. Weil die Suada aber kaum Nuancen kennt, die unterschiedlichsten Figuren und Szenen nur im Angriffsmodus der Kolumnenschreiberin vorgetragen werden, schlägt das literarische Projekt ins Gegenteil um. Die Prosa, die sich gegen die Pornografie wendet, ist im Grunde selbst pornografisch. Sie stellt die Körperteile ins grelle Scheinwerferlicht, das Niederträchtige und Perverse wird herangezoomt. Für etwas feinsinnigere, vielleicht sogar subtilere Charakterzeichnungen ist in „GRM. Brainfuck“ kein Platz.

Bergs Roman springt ständig von einer Person zur nächsten, der Tonfall allerdings verändert sich nicht mal bei interessanten Nebenfiguren wie Piet, dem allwissenden Mitarbeiter des Geheimdienstes MI5. Weil auf den über 600 Seiten jede technische Erneuerung, jede politische Diskussion, jede ökonomische und kulturelle Veränderung der letzten Jahre mit endlosen Tiraden bedacht wird, fällt der Plot dementsprechend dürftig aus. Zwar werden ständig Menschen verprügelt, vergewaltigt, körperlich und seelisch misshandelt und ermordet, aber die „Geschichte“ der vier Teenager, die untertauchen und aufbegehren, lässt sich in wenigen Zeilen zusammenfassen.

Bergs Trick: Man stelle sich vor, die Welt bestehe nur noch aus Horrormeldungen in Boulevardmedien, aus bösen Kommentaren in (a)sozialen Netzwerken, aus Verrohung im privaten und politischen Diskurs. So, als gäbe es nur kaputte Familien und zerbröselnde Staaten, als würden alle Menschen ständig und überall überwacht, als gäbe es keinen Raum mehr jenseits der globalisierten Rücksichtslosigkeit.

Nur entwickelt sich aus dieser etwas simplen Erzählprämisse, die nur rabiate Schwarzmalerei zulässt, keine ernst zu nehmende Dystopie. Dass die Menschen nach Karens erfolgreicher Virus-Attacke in sexueller Langeweile leben, die nach dem Wahlsieg der digitalen Opposition auch sozialstaatlich alimentiert wird, dass also zum Schluss eine Art Biedermeier 2.0 fröhliche Urständ feiert, wirkt als Schlussvolte fad. Außerdem leidet die Romankonstruktion unter einer ungeklärten Erzählperspektive: Wenn die Kontrolle des Gemeinwesens so total ist wie behauptet, stellt sich die Frage, wie unabhängig die auktoriale Erzählerin sein kann. Steht sie außerhalb des Verblendungszusammenhangs oder gehört sie auf verquere Weise selbst zur Propaganda?

Eine erstaunliche Wirkkraft ist „GRM. Brainfuck“ trotzdem nicht abzusprechen. Nach der Lektüre brummt der Kopf, als habe man sich stundenlang auf Facebook herumgetrieben oder zehn Folgen einer spannenden, stumpf-gewalttätigen Thrillerserie angeschaut. Ja, man fühlt sich „brainfucked“. Der Untertitel des Romans ist demnach als Warnung zu lesen.

Sibylle Berg: GRM. Brainfuck. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2019.634 Seiten, 25 €.

Carsten Otte

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