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Abends in der Ägäis. Die Festivalbühne auf der byzantinischen Festung

© Festival/Eleonora Pouwels

Griechenland braucht optimistische Geschichten: Die Magie von Molyvos

Eine Vision für Europa: Wie ein junges Kammermusik-Festival das Bild der griechischen Flüchtlingsinsel Lesbos verändert.

Am Strand von Molyvos packen Musiker ihre Instrumente aus. Waldhorn, Fagott, Oboe, Querflöte, eine Stradivari. Sie tragen Flip-Flops, kurze Hosen, bunte Kleider, wie die Urlauber auf der kleinen Uferpromenade. Zur Mittagsstunde wird eine lustig-tänzerische Melodie gespielt; es könnte Mozart sein. „Musical Moments“ nennen sie die spontanen Intermezzi beim „Molyvos International Musical Festival“ in der Ägäis. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre. Am Abend sind die Tavernen am Hafen dicht besetzt, die Läden bis nach Mitternacht geöffnet.

Das sind nicht die Impressionen, die man von Lesbos erwartet. Die Insel ist gezeichnet.

Lesbos, kaum zehn Kilometer vom türkischen Festland entfernt, wurde zum Abbild des Flüchtlingsdramas. Zehntausende Menschen sind über das Meer hierher gekommen, an dieser engen Stelle zwischen den Welten.

Das Wasser wirkt flach wie ein Badesee, die andere Seite zum Greifen nah. Die Griechen von der Insel wissen, wie gefährlich die Strömungen da draußen sind. Verzweifelte Menschen wurden angespült, von Schleppern ausgenommen, ohne Hab und Gut aus überfüllten Schlauchbooten gerettet, wie viele sind ertrunken! Traumatisiert fürs Leben: Das gilt auch für manchen Helfer an der Nordküste von Lesbos, an den Stränden von Molyvos, Eftalou und Petra. Sie haben Nahrungsmittel gebracht, Decken, Kleidung. Sie sind nachts hinausgefahren mit ihren Fischerbooten. Sie haben grauenvolle Dinge gesehen, über die sie nicht sprechen wollen.

Fernsehteams kamen und NGOs, eine Invasion professioneller Schaulustiger, übergriffiger Hilfsorganisationen. Immer wieder liest man, wie jüngst in der „New York Times“, die gleiche Elendsgeschichte.

Die Menschen auf Lesbos haben getan, was man tut, wenn die Not groß ist. In Griechenland aber gibt es immer noch die „Krise“, die harten Kürzungen im Sozialbereich, weil die Regierung in Athen, so will es die EU in Brüssel, „Reformen liefern“ muss. Sie haben Menschlichkeit gegeben. Und sie wurden dafür auch noch bestraft. Die Touristen bleiben weg, das Geschäft bricht ein, bis zu 80 Prozent Rückgang.

Mitte August ist Hochsaison – nur zwei, drei Wochen lang sieht es nach Normalität aus. So wie es sein sollte an diesem auratischen Ort im Norden der Insel, die ein Europa in der Nussschale ist. Einige tausend Flüchtlinge leben in zwei Lagern nahe der Inselhauptstadt Mytilini, und natürlich gibt es Probleme. Die Flüchtlinge sitzen fest, sie sind interniert in diesen Hot Spots, und immer noch kommen manchmal kleine Gruppen übers Meer. Das kann oder will die türkische Marine nicht verhindern, die Kriegsschiffe patrouillieren lässt.

Simon Rattle schickt eine Botschaft

Im April besuchte Papst Franziskus Flüchtlinge auf Lesbos. Er sprach von den „Fundamenten des europäischen Geistes“, man dürfe sie in dieser katastrophalen Situation nicht untergraben.

Dieser Geist weht um das Festival in Molyvos. Vier Tage klassische Musik unter freiem Himmel, aber das ist ein relativer Begriff. Die Flüchtlinge in den Lagern, die Künstler in Erdogans Türkei – genießen sie Freiheit? Können sie sich frei äußern und bewegen?

Das muss man im Kopf zusammenbringen. Die Katastrophen und die Kultur. Als die Schwestern Danae und Kiveli Dörken das Festival gründeten, ging es ihnen um die Musik und die Herkunft. Sie haben einen deutschen Vater und eine griechische Mutter, sie sind in Deutschland geboren, ihre Großmutter stammt aus Lesbos. Danae ist 25, Kiveli vier Jahre jünger. Beide sind auf dem Weg zu einer internationalen Pianistinnenkarriere.

Auch Dimitris Tryfon spielt Klavier, allerdings nicht professionell. Der junge Unternehmer ist Sponsor des Festivals. Eine Familienveranstaltung: Lito Dakou, die Mutter der Klavierschwestern, hält alles zusammen. Zum Beratergremium gehören die Kulturmanager Andreas Richter und Jochen Sandig aus Berlin und der Pianist Lars Vogt, bei dem die Schwestern studiert haben. Die Festivaltruppe besteht aus zwanzig Musikern, Freunden und Kollegen von Danae und Kiveli, sie spielen in führenden deutschen Orchestern. Man erlebt sie in unterschiedlicher Besetzung, an diversen Orten. Kammermusik, sportlich. Mal steht diese, mal jener Sturm auf der Bühne. Eben noch am Strand und jetzt Strawinski. Vom Beach zu Samuel Barber.

Danae und Kiveli Dörken wollten etwas tun für ihre zweite, griechische Heimat. Das ist nicht unbedingt schon ein politischer Gedanke. In die Flüchtlingsdramatik sind sie hineingeraten mit ihrem kleinen, feinen Festival. Ihre euphorische Energie scheint nicht in die allgemeine Stimmung zu passen. Doch schnell wird klar, dass die Menschen nicht nur auf der Insel genau das brauchen. Dass es richtig ist und gut.

Musik kann die Welt nicht verändern. Aber vielleicht verändert die Welt die Musik. So fühlt sich das an in den Konzerten auf der byzantinischen Festung hoch über Molyvos. Die Welt verändert die Musik, indem sie sie fordert. Etwas geschieht und entsteht in diesen Momenten, das den Geist berührt, Kraft verströmt. Die Musik wird gebraucht.

So drückt es Simon Rattle, der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, in seiner Botschaft für Molyvos aus, wenn er herzlich aus „Großbritannien grüßt, in dieser seltsamsten Phase unserer jüngeren Geschichte. Inmitten dieser Idiotie ist das, was Ihr macht, noch inspirierender. Tief in meinem Herzen glaube ich daran, dass Musik und Kultur Menschen zusammenbringen und Heilung bewirken können. Ihr seid ein Lichtstrahl in dunkler Zeit.“

Wanderungen durch die mediterrane Welt

Am Strand von Eftalou, in einem weißen Sarkophag, ist der Dichter Argyris Eftaliotis (1849 –1923) begraben. Er übersetzte Homers „Odyssee“ ins Neugriechische. Er schrieb: „Du musst Dunkelheit spüren, um das Licht zu lieben.“

Bald wird Simon Rattle Berlin verlassen und in seine britische Heimat zurückkehren. Aber in welches Britannien? Wer konnte den Brexit-Irrsinn und all die Phobie und Aggression ahnen?

Es ist an der Zeit, die Griechen zu preisen. Sie haben ausgehalten in der EU. Kaum vorstellbar, wenn sie auch austreten wollten oder müssten. Wie hätten die Briten reagiert, wenn ihre Insel erster Anlaufpunkt der Flüchtlinge gewesen wäre?

Die Tage der Musik in Molyvos lassen eine Vision von Europa aufscheinen: jung, dynamisch, spielerisch und ernst zugleich, traditionsbewusst. Beim Essen spät in der Nacht spricht jemand einen schönen Gedanken aus: Kammermusik bedeutet, sich aufeinander einzulassen, zuzuhören. Gemeinsam arbeiten und Glück empfinden. Ohne Dirigent.

Kiveli und Danae betrachten sich als Teil einer neuen Musikergeneration. Man braucht heute nicht nur Talent und Verbindungen, um voranzukommen, sondern auch soziale Kompetenz, Teamgeist. Es ist die unbändige Freude, wenn die beiden an die Rampe stürmen und ein Stück ansagen, als gäbe es nichts Schöneres und Dringenderes.

Eine europäische Vision. Dazu gehört – beim Mittagskonzert im Gemeindezentrum, das einmal eine Moschee war – das Stück „Nedudim“ (Wanderungen) des jungen israelischen Komponisten Gilad Hochman, für Mandoline und Streichquintett. Schwebende, klagende, tröstende Musik, die zu Tränen rührt. Dazu gehört „A Scattered Sketchbook“ des 1976 geborenen Syrers Kinan Azmeh: Klarinette und Geige ziehen stolz und einsam, aber auch neugierig durch die Welt. Dazu gehört die moldawische Rhapsodie von Mieczyslaw Weinberg. Der Komponist (1919 –1996) stammte aus Polen, lebte in der Sowjetunion und ist hierzulande nicht sehr bekannt. Linus Roth, einer der herausragenden Solisten in Molyvos, setzt sich leidenschaftlich für das Werk von Weinberg ein, bringt auf der Burg hoch über dem Strand mit seinem Violinengesang den Vollmond schier zum Schmelzen.

Jeder Abend gibt etwas, woran man sich lange erinnern wird. Beim „Children’s Concert“ spielen zwei Brüder, kaum älter als zwölf, Chopin. Sie wurden bei Workshops im vergangenen Winter entdeckt. Die Dörken-Schwestern zogen durch die Schulen der Insel, verbreiteten Begeisterung für ihre Musik – für ihre Art, Musik zu verstehen. Unterstützt wird das Schülerprojekt von der Deutschen Botschaft in Athen.

Lars Vogt hat Antonín Dvorák in den Vordergrund gestellt. Bei einem Kammermusikprogramm für 500 Zuhörer an der frischen Luft eine ausgezeichnete Wahl. Das Piano-Trio „Dumky“ am Eröffnungsabend gibt den nachdenklich-beschwingten Ton für die kommenden Tage vor, Dvoráks großes Klavierquintett wird zur ägäischen Sinfonie.

Das sind Bilder, die Lesbos braucht. Die Menschen hier haben einen Wechsel verdient, das Festival ist auch ihr Werk. Freiwillige übernehmen mit privaten Autos den Fahrdienst, den Einlass zu den Konzerten, den Aufbau. Sie helfen, sie sind beteiligt, so wie sie mitgeholfen haben, als die Flüchtlinge versorgt werden mussten. Europa lebt aus dem Geist der Freiwilligen.

Über tausend Jahre alt ist die Zitadelle von Molyvos. Nach den Byzantinern kamen genuesische Herrscher, dann die Türken. Auf antiken griechischen Fundamenten steht die kleine Stadt mit heute nicht einmal 2000 Bewohnern ohnehin. Troja ist nicht weit. Das Meer liegt da wie ein glattes, kühles Tuch.

Danae und Kiveli werfen sich ans Klavier. „Sacre du Printemps“, in Strawinskis eigener Bearbeitung für vier Hände. Junge Rennpferde stürmen los unter sternenklarem Himmel. Schwer wie ein Gebirge stehen die Mauern. Ruinen und Zukunft zugleich.

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