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Märchenkulisse. Das Panorama von Grafenegg.

© Andreas Hofer/Grafenegg

Grafenegg: Willkommen im Wolkenturm

Das Orchestertreffen im niederösterreichischen Grafenegg ist der Senkrechtstarter unter den Sommerfestivals

Wie Gottesfinger stechen die Sonnenstrahlen durch die wattigen Wolkengebilde über dem Märchenschloss von Grafenegg, eine sanfte Abendbrise streicht durch den weitläufigen Landschaftspark. Auf dem Rasen haben ein paar Besucher ihre Picknickdecke ausgebreitet, andere lümmeln sich in bequemen Liegestühlen. An diversen Pavillons auf dem Gelände wird Grüner Veltliner und Riesling ausgeschenkt, im Restaurant bei der historischen Reitschule serviert Haubenkoch Toni Mörwald Delikates zu saftigen Festspielpreisen. Später, wenn Jukka-Pekka Saraste und das Oslo Philharmonic Orchestra Johannes Brahms’ Vierte sehr open-air-tauglich angehen, mit kräftigen Farben und scharfen Klangkonturen, wird sich ein schöner, bleicher Mond zeigen, wie mit dem Messer halbiert, um im Laufe der vier Sätze zwischen den effektvoll von unten angestrahlten Baumkronen Versteck zu spielen. Grillengezirpe grundiert das Spiel der Norweger, irgendwo quakt sogar ein Frosch. In weiter Ferne zucken theatralisch die Blitze eines Wärmegewitters.

Mit dem Slogan „Eine Symphonie der Sinne“ wirbt das Festival im niederösterreichischen Weinviertel für sich: Tatsächlich steigt beim Spaziergang zwischen exotischen Gehölzen würziger Duft in die Nase, das Essen ist gut, die Kunst hochkarätig. Und das Schloss betört mit seinem verrückten Stilmischmasch, mit Zuckerbäckerarchitektur wie aus einem Disney-Film. Mitte des 19. Jahrhunderts beschloss der damalige Besitzer, den abgewohnten Renaissance-Landsitz modisch aufzumöbeln – im damals angesagten englischen Tudorstil. So wurden den bestehenden Fassaden Zinnen, Erker und Türmchen angefügt, dazu filigrane Treppengiebel, fantasievolle Wasserspeier und aus Sandstein gemeißelter gotischer Zierrat – bis dem adligen Bauherren beim Börsencrash 1873 ein Großteil seines Vermögens flöten ging.

1945 quartierte sich die siegreiche russische Armee in dem Prachtbau ein – als ihn die Familie Metternich zehn Jahre später zurückerhielt, war er kaum wiederzuerkennen. Seitdem fließen die Einnahmen, die der Landwirtschaftsbetrieb auf dem 30 Hektar großen Areal abwirft, in die schrittweise Renovierung. Vor 40 Jahren begann man mit ersten kleinen Kulturveranstaltungen, erst im Gartensaal, später in der historischen Reitschule. Zum Klassik-Boom in Grafenegg aber kam es erst, als sich das Bundesland Niederösterreich entschied, für ein neues Sommerfestival im Nordosten von Wien richtig Geld in die Hand zu nehmen. 2007 wurde eine Freilichtbühne mit über 1700 Plätzen im Park eröffnet, zwölf Monate später dann das wetterunabhängig bespielbare Auditorium mit immerhin 1300 Plätzen.

Zum künstlerischen Leiter des Festivals erkor man den Wiener Pianisten Rudolf Buchbinder, als hauseigenes Ensemble fungiert das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich, dem der junge kolumbianische Chefdirigent Andres Orozco- Estrada gerade einen künstlerischen Kick verpasst hat.

Dass mittlerweile die ganz großen Namen auf ihren sommerlichen Tourneen in Grafenegg Station machen – bis zum 9. September werden das Cleveland Orchestra und das London Philharmonic Orchestra erwartet, die Staatskapelle Dresden mit Christian Thielemann wie auch das Leipziger Gewandhausorchester mit Riccardo Chailly – spornt die in St. Pölten beheimateten Tonkünstler in ihren Kunstbemühungen zusätzlich an.

Die Investition hat sich jetzt schon rentiert. Als hätte das Publikum nur darauf gewartet, stürmen die Leute das Festival: die Niederösterreicher, die Touristen, aber auch die Wiener, die gerne mit Klassikern auf Landpartie gehen. In seiner sechsten Saison ist Grafenegg zum Shootingstar unter den Sommerfestivals aufgestiegen.

Die beiden Spielstätten bieten allerdings auch erstaunlich gute Aufführungsbedingungen: Fast ganz ohne technische Verstärkung geht es im „Wolkenturm“, wie der Spielort im Park etwas prätentiös genannt wird, – wobei die Bläser präsenter klingen als die Streicher. An einen geborstenen Bergkristall erinnert die Bühne, ganz organisch, wie aus einer Talsenke, erhebt sich dagegen die Zuschauertribüne.

Dass Festivalchef Buchbinder bestens vernetzt ist, zeigt ein Kammermusikabend, den er selbst mit Künstlerfreunden von den Wiener Philharmonikern im Auditorium bestreitet, einem nüchternen Zweckbau, in dem allein der Raumklang warm und einladend wirkt. Nach dem dritten Satz von Schuberts A-Dur-Klavierquintett geht die Bühnentür auf, und Michael Schade kommt herein, der große Mozarttenor. Von den Salzburger Festspielen, wo er gerade den Tamino im „Labyrinth“ singt, der Fortsetzung der „Zauberflöte“, schaut er auf einen Sprung in Grafenegg vorbei, singt zur Begeisterung des Saales die „Forelle“ und lässt sich dann neben seinem Kumpel Buchbinder nieder, um ihm bei den Variationen über das berühmte Lied die Noten umzublättern. Tu felix Austria.

Weitere Informationen zum Festival unter www.grafenegg.com

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