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Kultur: Gottes Licht und Teufels Helle

Der Schriftsteller Péter Nádas zeigt im Gropius-Bau seine Geschichte der ungarischen Fotografie

Von Gregor Dotzauer

Wer könnte sagen, wie es anfing. Ob es die Sommerferien waren, in denen der 13-Jährige als Hilfskraft in einem historischen Museum die Geheimnisse der Dunkelkammer kennen lernte, mitleidig instruiert von Alchimisten, die über ihr Handwerk nur Auskunft gaben, weil sie wussten, dass die Mutter von Péter Nádas auf dem Totenbett lag. Ob es die dreißig ungarischen Fotografen waren, von denen er heute behauptet, dass er sie in sich trage: ein Medium fremder Blicke und Bilder, das sich über die Bedingtheit der eigenen Persönlichkeit keine Illusionen macht. Oder ob es gar der Baum auf seinem Hof in Gombosszeg war, im Südwesten des Landes unweit von Zalaegerszeg, eine inzwischen zu gut und gerne zehnfacher Menschengröße herangewachsene Wildbirne, deren Blühen und Verblühen er in einer Serie von 507 Polaroids festgehalten hat.

Man muss wahrscheinlich noch viel weiter zurückgehen, vor das Leben jener von Nádas so geliebten Wildbirne, die ihn schon zu dem Bekenntnis verleitet hat, er habe nicht ein Haus mit einem Baum gekauft, sondern einen Baum mit einem Haus, zurück in eine Zeit, als der Baum noch nicht einmal ein Samenkorn war, ja in eine Zeit vor jeder Zeit. An einen Punkt, an dem sich die Aufgabe des Sehens immer neu stellt: „Schwarz von schwarz unterscheiden.“

Was bedeutet dieser Stummelsatz nicht alles, der, seinem Fotoband „Etwas Licht“ (Steidl Verlag) entnommen, nun auch als Motto über der Ausstellung „Seelenverwandt – Ungarische Fotografen 1914 – 2003“ steht. Dass der Moment, in dem das Licht die Finsternis teilt, erst die Finsternis gebiert. Dass in jedem Schwarz schon ein Grau dämmert. Dass das Schwarz der Wirklichkeit ein anderes ist als das Schwarz der Kunst. Und: Dass allein der Wille zu unterscheiden das eine, selbe Schwarz in ein anderes verwandelt. Da sind wir schon mitten im Theologischen, ohne das es bei Nádas nicht geht: „Wenn es Gott gibt“, schreibt er in seinem Katalogessay, „dann kannst du ihn möglicherweise in der kleinsten Menge Licht und einem aufs Äußerste reduzierten Kompositionsprinzip finden.“

Aus dem Fotomuseum Den Haag ist die von Nádas kuratierte und von Wim van Sinderen angeregte Schau nun in den Berliner Martin-Gropius-Bau gewandert. Am Mittwochmorgen hängt erst die Hälfte der Bilder. Die andere lehnt noch schaumgummiunterlegt auf dem Boden. Ringsum wird gebohrt und geschraubt, Laserpointer schießen rote Waagrechten an die Wand; die Wasserwaage braucht hier niemand mehr. Inmitten des Getümmels wacht Péter Nádas klein und leise über die korrekte Zuordnung von Bildern und Legenden und erklärt, wie das Thematische, das Historische und das Persönliche bei der Konzeption der Ausstellung einander durchdrungen hätten.

21 Fotografen (und Fotografinnen!), sich selbst eingeschlossen, stellt Nádas vor. Vielleicht muss man sich zunächst eine Sekunde lang die Augen reiben, um zu glauben, dass sie tatsächlich alle Ungarn sind. Nicht nur, dass man allein mit den Stars einen entscheidenden Teil der Fotografiegeschichte des 20. Jahrhunderts schreiben könnte. Ihre Künstlernamen verleiten schnell dazu, sie anderen Nationalitäten zuzuschlagen. Das gilt für den zum Amerikaner mutierten Robert Capa, der eigentlich Endre Ernö Friedmann hieß, nicht weniger als für Brassaï. Er legte seinen Taufnamen Gyula Hálasz jr. in Frankreich ab, um nur noch Eingeweihten per Pseudonym mitzuteilen, dass er aus dem heute rumänischen Brassó stammte. Offensichtlicher verhält es sich mit André (Andor) Kertész und László Moholy-Nagy. Sie aber sind so an ihren neuen Wirkungsstätten aufgegangen – Kertész in Paris und New York, Moholy-Nagy in Berlin und Chicago –, dass fast nur noch die Geburtsorte ihren Ruhm für Ungarn reklamieren.

Die Kunstoffensive in Richtung Westeuropa war zwar auch das Ergebnis überwältigender Begabungen und jugendlicher Aufbruchslust in die Metropolen. Vor allem aber war sie das Ergebnis eines Zwangskosmopolitismus. Nach dem Sturz der viermonatigen ungarischen Räterepublik 1919 flohen viele vehemente Linke wie Moholy-Nagy außer Landes – auch um dem Weißen Terror zu entgehen, der unter dem berüchtigten Reichsverweser Miklós Horthy willkürliche Verhaftungen, Folterungen und Hinrichtungen nach sich zog. Den Rest besorgte ein ethnischer Numerus clausus im Rahmen der ersten antisemitischen Gesetze Europas. Er trieb fast eine ganze Generation junger Juden zum Studium ins Ausland.

Péter Nádas erzählt davon als jemand, dessen Familie früh in diese politischen Wirren verwickelt war – Jahre, bevor er auf die Welt kam. Besonders ein adliger Onkel, der in der kommunistischen Bewegung als Paul A. firmierte und in Paris die Wochenzeitung „Le Regard“ redigierte, spielte für ihn eine Rolle. Das Blatt, an dem André Malraux, Tristan Tzara und Romain Rolland mitarbeiteten, unterhielt Kontakte zu vielen bedeutenden Fotografen. Auch wenn er ihnen persönlich nie begegnete, blieben sie in den Nachkriegsjahren, in denen er aufwuchs, sein Kontakt zur Welt: „Ich verdanke es der Fotografie, dass ich in der Diktatur die Welt gesehen habe.“

Die Ausstellung beginnt mit zwei Selbstporträts im Spiegel: einem des 21-jährigen Nádas – und einem der 21-jährigen Eva Besnyö aus dem Berlin des Jahres 1931. Von da macht sie einen Sprung zurück in den Ersten Weltkrieg, aus dem, wie Nádas sagt, die erste Schule der ungarischen Fotografie hervorgegangen sei.

Wie sie sich danach in thematisch gruppierten Porträts, Genreszenen und Stillleben in die Moderne vorarbeitet, um in einem großen Meditationssaal mit Nádas’ Wildbirne zu enden, ist nicht nur eine Reise durch alle Schulen der ungarischen Fotografie: „eine illusionistische, eine realistische und eine konstruktivistische“, sagt Nádas. Es ist auch eine Begegnung mit Künstlern, die man hierzulande kaum kennt: mit Kata Sugár und Klára Langer und deren Blick auf Armut und Elend oder mit der wilden Poesie von Jenö Dulovits oder Marta Rédner, einer Pressefotografin und Zeitungskollegin, der Nádas einen ergreifenden Erinnerungstext gewidmet hat. Und das alles in Schwarzweiß – bis auf László Moholy-Nagys nachkolorierte „Komposition mit Masken“.

Was seine eigenen Arbeiten angeht, überschätzt Nádas sie gewiss nicht: „Ich bin ein Schriftsteller, der fotografiert, kein Fotograf.“ Insofern liegt ihm auch mehr an einem grundsätzlichen Ethos des Bildermachens als an einer künstlerischen Vision. Eine ganze Reihe seiner Arbeiten aus den 60er Jahren sind nie veröffentlichte Pressefotos: „Elend durfte im Sozialismus nicht erscheinen.“ Damit konnte und wollte er sich nicht abfinden: „Ich habe es nicht geschafft, aus einer Realität eine andere zu machen.“

So muss man wohl auch das Fragment „Zur Theologie des Bildes“ verstehen, in dem es heißt: „Bilder, die auch nur einen einzigen Menschen zu einem anderen führen können, sind heilig und stellen ein Mysterium dar. Bilder, die mit einer anderen Absicht herumgezeigt werden, sind dagegen unheilig und gehören zum Götzendienst.“ Es ist eine der größten Leistungen von „Seelenverwandt“, dieser wunderbaren kleinen Ausstellung, dass sie einen jenseits aller aktuellen ideologischen Missbrauchsabsichten daran erinnert.

Martin-Gropius-Bau, bis 29. August. Tgl. außer Di 10–20 Uhr. Katalog im Nicolai Verlag, 14,90 €. – Gespräch zwischen Péter Nádas und Wim van Sinderen morgen, Sonnabend, 17 Uhr (Eintritt frei).

Péter Nádas , am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren, gehört zu den wichtigsten Neuerern der ungarischen Literatur. Mit Ende eines Familienromans (1977) schuf er eine geschichtsphilosophische Analyse des stalinistischen Rákosi-Regimes in der Form eines Bewusstseinsstroms. Als sein Hauptwerk gilt das Buch der Erinnerung (1986) – mit einer Fiktion in der Fiktion, die von einem ungarischen Schriftsteller in Ost-Berlin ausgeht. Der Roman greift dabei auf eigene Erfahrungen zurück.

Nádas absolvierte zunächst eine Fotografenlehre, fotografierte und schrieb bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 auch journalistisch. 1981 wohnte er als Stipendiat des DAAD in West-Berlin, 2002/03 war er Gast am Wissenschaftskolleg. Im November erscheint in Ungarn Nádas’ 1500-seitige Romantrilogie Parallelgeschichten , an der er 18 Jahre lang arbeitete.

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