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Gott ist Plot: Wiliam Carlos Williams: Der Lauf zum Meer

"Der Lauf zum Meer": William Carlos Williams Uraufführung bei der Spielzeit Europa in Berlin ist weniger an Gott als an einem Klischee einer New Yorker Avantgarde aus den Achtzigern.

Einmal zieht sich Charly Hübner nackt aus und steht in roten Socken auf der Bühne. Einmal schüttet sich Katharina Schüttler einen Eimer Wasser über den Kopf. Ein anderes Mal leert Charly Hübner eine Whiskyflasche über sein T-Shirt und kommt dann mit einem aus Zeitungspapier gefaltetem Boot nach vorne, öffnet den Mund und züngelt wie eine lüsterne Eidechse. Man blättert, nur um mal anderes zu sehen, im Programmheft und bleibt an folgendem Satz hängen: „Der Plot ist wie Gott: je weniger wir ihn definieren, desto dichter sind wir an der Wahrheit.“ So kann man es auch sagen. So poetisch wie William Carlos Williams, der große amerikanische Dichter, dessen „Der Lauf zum Meer. Ein Idyll“ – Teil des großen Langgedichts „Paterson“ – als Uraufführung sehr plotvergessen im Rahmen der Spielzeit Europa über die Seitenbühne des Hauses der Berliner Festspiele geht. Nur fühlt man sich während dieser fünfundsiebzig Minuten nicht Gott nah, sondern höchstens dem Klischee einer New Yorker Avantgarde aus den Achtzigern.

„Paterson“, das berühmteste Werk Williams, das er nach zehnjähriger Arbeit 1958 veröffentlichte, ist ein Gesang darüber, dass ein „Mensch für sich genommen eine Stadt ist und sein Leben beginnt, sucht, vollbringt und beschließt auf Wegen, die von den verschiedenen Aspekten einer Stadt verkörpert werden können ...“ Die drei Personen, die im vierten Teil „Der Lauf zum Meer“ in lockeren Szenen zueinander geführt werden, sind also immer mehr als sie selbst. Die junge Krankenschwester Phyllis, die vor ihrem trinkenden Vater in die Stadt geflüchtet ist, verkörpert Aufbruch und Hoffnung der Zugezogenen, die ältere Dame Corydon Weisheit und dämonisches Wissen der Gesellschaft. Und der Mann Paterson, den Phyllis regelmäßig in Hotelzimmern trifft, schimmert gleichzeitig als Bild des zermürbenden städtischen Alltags. Gedichte und Briefe sind in die Dialoge eingestreut, die Handlung bleibt im Ungefähren. Phyllis massiert Corydon, die mit ihr über Phyllis Liebhaber und eine Leiche im Fluss reden will. Später nimmt sie Phyllis auf eine Reise zu ihrer Fischpacht nach Anticosti mit – „ins Paradies“. Als sie zurückkommen, beschließt Phyllis, in den Westen zu gehen, wo das Leben wohl idyllischer ist.

Das Eigentliche des Textes (deutsch von Karin Graf und Joachim Sartorius) ist ohnehin sein Rhythmus, sein Atem, sein unergründlicher Subtext, der mal witzig und mal unheimlich im Weiß zwischen den gedruckten Worten sitzt. Wie bringt man so etwas auf die Bühne? Thorsten Lensing und Jan Hein, die in der Theaterszene als ungewöhnliches Regieduo gelten, weil sie sich für Produktionen manchmal zwei Jahre Zeit nehmen, haben für ihre Theaterfassung das Naheliegendste gewählt. Sie haben den Text musikalisiert. Ganz und gar. Sie haben für ihren Abend die großartigen Musiker Jean Paul Bourelly, der als Gitarrist schon Miles Davis beeindruckte, den Schlagzeuger Willi Kellers und Gilbert Diop auf die Bühne gebeten, der Sabar spielt, mit Ziegenfell bespannte Trommeln also.

Für Jazzliebhaber ist das ein schönes Konzert. Es hat nur den Nachteil, den Schauspielern und der Stille zwischen den Worten keinen Raum zu lassen. Allein die Belgierin Viviane DeMuynck, seit über fünfzehn Jahren Mitglied von Jan Lauwers Needcompany, vermag es, den Rhythmus der Musik in ihr Spiel zu übernehmen. Sie schwankt und taumelt, fiept lässig ins Mikrofon und trägt überhaupt ein mephistophelisches Lächeln im Gesicht, das zur dekadenten Seite ihrer Corydon passt. Dagegen wirken Katharina Schüttler als Phyllis und Charly Hübner als Paterson fehl am Platz. Schüttler unterstreicht die unglaubwürdige Wut ihrer Jugend mit aggressivem Hüftruck und den Armbewegungen einer Hip-Hop-Praktikantin. Und Charly Hübner steht meistens nur rum – wenn er nicht gerade mit dem Fangen eines Slips beschäftigt ist. Auch den Regisseuren verschlug es offenbar den Atem: Nur alberne Wasserspiele und geheimniskrämerische Posen des Lakonischen. Andreas Schäfer

Wieder heute, 20 Uhr.

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