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Soldaten und Freiwillige helfen beim Aufbau der Installation des französischen Künstlers Olivier Grossetête.

© Philipp Lichterbeck

Goethe-Institut in Südamerika: Erinnern an Gewalt und Diktatur

Das Goethe-Institut organisiert in Südamerika das Projekt „Die Zukunft der Erinnerung“. Künstler und Zeitzeugen beschäftigen sich mit Verbrechen von Gewaltregimen.

Rund 25 Minuten spricht die junge Frau, aber der zweite Teil ihrer Erzählung geht in Schluchzen unter. Die Kolumbianerin, die ihren Namen nicht verrät, berichtet, wie sie auf einer Hazienda Arbeit findet. Wie die Farc-Guerilla in die Region einrückt und einer der Kämpfer, Bruder des Kommandanten, sie dreimal vergewaltigt. Ihr einmal eine gebrauchte Binde in den Mund stopft. Und wie sie dann, als der Guerillero sich an ihrer zwölfjährigen Tochter vergeht, einen Stock nimmt und ihn totschlägt. Sie vergräbt seinen Leichnam – nicht ohne ihm vorher Erde in den Mund zu stopfen – und flüchtet.

Mucksmäuschenstill hören mehrere Dutzend lateinamerikanische Künstler und Intellektuelle das Zeugnis, das auf Tonband aufgezeichnet wurde. Sie haben sich im Mapa Teatro versammelt, einem für seine Umtriebigkeit bekannten Off-Theater im Zentrum Bogotás. Das Mapa, wie es hier genannt wird, ist dieser Tage das Epizentrum eines außerordentlichen Experiments. Die Goethe-Institute aus sieben Städten Südamerikas laden dieses Jahr zur Auseinandersetzung über die „Zukunft der Erinnerung“ ein. Im Rahmen des Projekts „El Futuro de la Memoria“ sind Diskussionen, Performances und Interventionen im öffentlichen Raum geplant.

Deutscher Exportschlager Erinnerungsarbeit

„Das Erinnerungsprojekt ist für das Goethe-Institut von enormer Bedeutung“, sagt Katja Kessing, die Leiterin der Vertretung in Bogotá. Dabei ist es sicher kein Zufall, dass das Projekt ausgerechnet von einer deutschen Kulturinstitution ins Leben gerufen wurde. Weitere Geldmittel kamen vom Auswärtigen Amt und der Siemens-Stiftung. In Deutschland ist die Erinnerungskultur vor dem Hintergrund der Aufarbeitung der NS-Geschichte besonders ausgeprägt.

In „El Futuro de la Memoria“ geht es in erster Linie um Gewaltregime, die im 20. Jahrhundert in vielen Ländern des Subkontinents herrschten und ihre Schatten bis in die Gegenwart werfen. Dass den Auftakt der Reihe das Goethe-Institut in Bogotá macht, besitzt eine gewisse Logik. Ende letzten Jahres beendeten Kolumbiens Regierung und die Farc-Guerilla ihren 55 Jahre währenden Krieg offiziell. Der Frage, wie man einen Konflikt von solcher Länge, Brutalität und Komplexität aufarbeitet, beschäftigt das Land.

Der kolumbianische Menschenrechtsanwalt Iván Orozco etwa sagt, dass viele Erinnerungen auch miteinander in Konflikt stünden . Es gebe viele „Menschen der Grauzone“, die sowohl Opfer als auch Täter seien. Orozco hat dem Zeugnis der Frau mit geschlossenen Augen gelauscht, sich ab und an Notizen gemacht. Nun findet er nach einer langen bedrückenden Stille als Erster die Sprache wieder.

Neben ihm am Tisch sitzen ein Schriftsteller und eine Richterin aus Kolumbien, eine argentinische Anthropologin und eine brasilianische Psychoanalytikerin. Niemand von ihnen kannte die Aussage der Frau, nun sollen sie spontan reagieren. Es entspinnt sich eine Diskussion um die Frage, wie man sich dem Gehörten nähern kann. Wie mit dem Leid dieser Frau umgehen, fragt Orozco, der man das Menschsein abgesprochen habe? Seine Antwort: rationalisieren, einordnen, benennen. Deswegen gibt die Gruppe der Frau einen Namen: Maria. Orozco gesteht: „Ich hatte Angst vor diesem Experiment.“

Traumata der Region: Klasse, Rasse, Gender

Die Richterin Gloria Guzmán versucht sich dem Fall mit den Mitteln des Strafrechts zu nähern. Sie gibt zu, dass es dazu tendiere, simple Wahrheiten zu schaffen: hier das Opfer, dort der Täter. Doch wie sei das in diesem Fall, in dem die Vergewaltigte zur Täterin wird, als sie ihren Peiniger umbringt? Die ganze komplexe Realität Kolumbiens finde sich in diesem Fall wieder. „Als Richterin habe ich das Gefühl, dass mir die richtigen Werkzeuge fehlen“, sagt Guzmán.

Interessant wird es, als Suely Rolnik aus São Paulo das Wort ergreift. Die Psychoanalytikerin ist eine ausgesprochen lebhafte Frau. Sie hat fast nichts von der Aufnahme in spanischer Sprache verstanden, aber die Emotionen haben sie mitgenommen. Szenen der Gewalt, die Lateinamerika seit 500 Jahren heimsuchten, habe sie gesehen. Sie spricht die drei großen Traumata der Region an: Klasse, Rasse, Gender. Und schimpft ein wenig, dass solche Diskurse wie an diesem Tisch immer nur die Angelegenheit weißer Akademiker seien, die versuchten, stabile Narrative zu schaffen, um ihre eigene Verunsicherung zu verbergen. „Die Kunst“, sagt Rolnik, „ist die einzige Möglichkeit, die Wahrheit der Gefühle auszudrücken.“

Das freut die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler in den ersten Reihen. Für das Projekt wurden 22 aus über 500 Bewerbungen ausgewählt, sie erhielten vom Goethe-Institut ein Stipendium. Sie kommen aus zehn Ländern Lateinamerikas, von Performance über Dramaturgie bis Tanz und Gesang sind sie in allen möglichen Disziplinen zu Hause. Nun werden sie in Gruppen beauftragt, binnen 24 Stunden ein Kunstwerk zu schaffen, das sich mit dem Zeugnis der Frau auseinandersetzt. Um den Arbeiten einen Rahmen zu geben, bekommen sie Holzkonstruktionen, die an kleine Häuser erinnern und die mit Drehmechanismen ausgestattet sind.

Kunstfestival Experimenta Sur

Die Maschinen wurden konzipiert von den Kuratoren des Projekts, Heidi und Rolf Abderhalden. Das Geschwisterpaar gründete vor mehr als 30 Jahren das Mapa Teatro und führte es zu internationaler Bedeutung. Dieses Wochenende präsentiert das Mapa-Kollektiv in der Berliner Schaubühne im Rahmen des FIND-Festivals das Stück „Los Incontados“. Die Abderhaldens, deren Familien aus der Schweiz stammen, kuratieren auch das bislang größte Projekt des Goethe-Instituts in Südamerika: das Kunstfestival „Experimenta Sur“, das 2017 zum sechsten Mal in Bogotá stattfindet und heute Ableger in Buenos Aires und Santiago de Chile hat. Es steht unter dem Motto „Mnemofilia & Lotofagia – Erinnerungskonsum und der Impuls zu vergessen“. Klar also, dass sich anbot, „Die Zukunft der Erinnerung“ thematisch darin einzubetten.

Deutschsprachige Künstlerinnen und Künstler sind beim diesjährigen „Experimenta Sur“ nicht dabei. Die Theaterleute Milo Rau und Hannah Hurtzig mussten wieder absagen. Dafür dominieren die Franzosen. Am beeindruckendsten: Olivier Grossetête, der rund um die Welt Gebäude mit Pappkartons und Klebeband von Freiwilligen nachbauen und wieder abreißen lässt.

In Bogotá errichtet er am Platz der Nationalen Stimmabgabe einen zwanzig Meter hohen Turm. Beim zehnstündigen Aufbau helfen neben den Goethe-Stipendiaten auch Dutzende Soldaten einer nahen Kaserne. Und vielleicht könnte es kein besseres Bild für die Hoffnung auf Frieden in Kolumbien geben: Die Armee, die im Bürgerkrieg schwere Verbrechen beging, macht Aktionskunst.

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