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Sind Kühe in Indien mehr wert als Frauen? Diese Aufnahme gehört zu einem Kunstprojekt, das der in Delhi lebende Fotograf Sujatro Ghosh auf Instagram realisierte.

© Sujatro Ghosh/dpa

Gleichstellung von Mann und Frau: Die Dornen der Normen

Was wirklich hilft: Die Wissenschaftlerin Iris Bohnet beschäftigt sich mit den psychologischen Hürden der Gleichstellung von Mann und Frau.

Im neuen Bundestag ist der Frauenanteil so gering wie seit 1998 nicht mehr. Auch der jüngste „Global Gender Gap Report“ des Weltwirtschaftsforums, der 144 Staaten danach untersucht, wie weit die Gleichstellung der Geschlechter in den Bereichen Wirtschaft, Bildung, Politik und Gesundheit vorangekommen ist, bietet keinen Anlass zum Jubeln. Deutschland befindet sich auf Rang 12, knapp hinter Frankreich, die Geschlechterkluft ist zu 78 Prozent geschlossen. Aber was sagen solche Rankings wirklich aus? Ruanda beispielsweise belegt Rang 4, was nicht bedeutet, dass es den Frauen besonders gut geht, sondern nur, dass sich ihre im Vergleich zu Deutschland geringere Lebensqualität etwas weniger von der ebenfalls geringeren der Männer unterscheidet.

Jede Statistik hat ihre Tücken. Rankings führen oft zu absurden Verzerrungen, die wir genau dann nicht wahrnehmen, wenn sie mit unseren Vorurteilen übereinstimmen. Island, Norwegen, Finnland und Schweden auf den fünf vordersten Plätzen: Das verwundert kaum. Die USA belegen Rang 49, seit Trump Präsident ist, auch das entspricht unseren Vorurteilen. Was die Harvard-Professorin Iris Bohnet in Interviews über ihre Karriere erzählt, hört sich trotzdem nach paradiesischen Zuständen an. Zumindest im Bostoner Intellektuellenmilieu scheint die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unproblematisch zu sein. Iris Bohnet, Schweizerin und seit 2011 Dekanin der Wirtschaftsfakultät, führt ihre Karriere auch auf günstige Rahmenbedingungen zurück: auf Ganztagsschulen und die Tatsache, dass ihre beiden Söhne nicht zu Außenseitern wurden, weil die meisten Mütter arbeiten. Es ist normal, dass Kindergeburtstage am Wochenende gefeiert werden und nicht etwa Mittwochnachmittags.

Wie sehr Normen unsere Wahrnehmung beeinflussen, ist eine der zentralen Beobachtungen ihrer viel beachteten Studie, die auch in der deutschen Übersetzung den Titel des 2016 erschienenen amerikanischen Originals trägt: „What works“. Den nüchternen Untertitel „Gender Equality by Design“ haben die Übersetzerin Ursel Schäfer und der Verlag C.H. Beck ins Pamphletistische gewendet: „Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann“. Von Revolution kann allerdings keine Rede sein. Der Ansatz der Ökonomin ist pragmatisch. Das hat Vorteile.

Erwartungen prägen die Norm

Iris Bohnet schnüffelt nicht in Gesinnungen herum. Weder müssen die Frauen noch mehr an ihrer Selbstoptimierung arbeiten, um endlich den richtigen Biss für den Griff zur Macht zu haben, noch wird den Männern unterstellt, die gläserne Decke willentlich zu stabilisieren. Sie lenkt das Augenmerk auf Normen, Stereotypen und eingefahrene Verhaltensweisen, die sich hinter unserem Rücken durchsetzen, und sie sucht nach einfachen, meist technischen Hilfsmitteln. Oft funktionieren sie nach dem Modell der Schlüsselkarte in Hotels, mit der sich das Abschalten des Lichts effektiver regeln lässt als durch Appelle.

Ein einfaches Hilfsmittel wie ein Vorhang hat bewirkt, dass in Symphonie-Orchestern der Frauenanteil erheblich gestiegen ist. Auch wer meint, keine Vorurteile zu haben, lässt sich unter Umständen doch beeinflussen, wenn etwa ein als unweiblich geltendes Instrument wie das Fagott von einer Frau gespielt wird. Findet das Vorspiel hinter einer Sichtblende statt, gilt nur das musikalische Können. Auch Bewerbungen ohne Bild und erkennbare Geschlechtszuordnung wirken in dieser Hinsicht egalisierend.

Auf breitem Datenmaterial aufbauend, schildert „What works“ eine Vielzahl von Hürden, die qualifizierte Frauen daran hindern, auf gleiche Weise aufzusteigen wie Männer. Das meiste überrascht nicht wirklich und ist trotzdem in der Summe frappierend. An Frauen und Männer werden unterschiedliche Maßstäbe angelegt, und zwar von beiden Geschlechtern. Auch Frauen erwarten von anderen Frauen nicht das Gleiche wie von Männern. Alle erwarten, dass sie sich altruistischer verhalten, dass sie keine Werbung für sich machen, dass ihnen das Gehalt weniger wichtig ist als ein gutes Betriebsklima. Diese Erwartung prägt die Norm.

Was kann man tun?

Erschwerend kommt hinzu, dass für den Aufstieg das männliche Stereotyp als „kulturelles Ideal“ gilt. Verhandlungen über das Gehalt und sonstige Vergütungen beweisen bei Männern ihre Durchsetzungsfähigkeit, was wiederum als Beleg dafür gilt, dass sie für höhere Posten geeignet sind. Während man bei Frauen zwischen Kompetenz und Liebenswürdigkeit unterscheidet, fand Bohnet heraus, geraten Männer nicht in das gleiche Dilemma. Für sie ist Kompetenz grundsätzlich mit hohem Status verbunden. Eine Frau, deren Leistung gewiss ist, gilt als weniger sympathisch als ein Mann; eine Frau, deren Leistung ungewiss ist, wird für weniger kompetent als ein Mann gehalten. Selbst für Kinder bekommen Frauen einen Malus, während sie bei Männern als Vorteil verbucht werden.

Sowohl bei Bewerbungen als auch bei Prüfungen sind Frauen deutlich risikoscheuer als Männer. Wenn man ihnen den beruflichen Aufstieg anbietet, fürchten sie negative Auswirkungen (etwa in Hinsicht auf die Familie). Ungewissheit und Verhandlungsspielräume sind ihnen unangenehm, lieber akzeptieren sie ein feststehendes niedriges Gehalt als über ein höheres zu verhandeln. Frauen raten auch nicht gern. Während Männer bei Multiple-Choice-Fragen auch dann eine Antwort ankreuzen, wenn sie nicht Bescheid wissen und damit ihre Chancen erhöhen, neigen Frauen dazu, Unkenntnis zuzugeben.

Was also kann man tun? Iris Bohnet plädiert für die Änderung von Verfahren. Fragebögen müssen anders gestaltet werden, Stellenanzeigen so formuliert sein, dass geschlechtsstereotype Formulierungen vermieden werden. Frauen brauchen mehr Ermunterung, um sich auf höhere Stellen zu bewerben. Quoten sind auch in dieser Hinsicht hilfreich. Die Zusammensetzung von Gruppen lässt sich optimieren. Statt der Alibifrau hilft ein Anteil von mindestens 30 Prozent. So entstehen nicht nur Vorbilder und andere Gewichtungen, im Lauf der Zeit ändert sich auch die Norm.

Immer stärkere Wertschätzung des Besonderen

Iris Bohnets nüchterner Ansatz auf der Basis eines großen Datenpools hat viele Vorzüge, allen voran den Vorzug verbaler Abrüstung in Hinsicht auf den Geschlechterkonflikt. Sie argumentiert aus der Warte der Ökonomin und aus der Position von Arbeitgebern, deren Ziel es ist, die „besten“ Mitarbeiter zu finden, unabhängig von deren „Genderprofil“ (einer Kombination von Hautfarbe und Geschlecht). Allerdings erzeugt die Quantifizierung und Leistungsorientierung des eher schlichten Modells selbst in ökonomischer Hinsicht blinde Flecken. Die eklatante Bedeutung von Individualisierungsphänomenen fällt vollständig durchs Raster. Es ist nicht nur eine Frage des Temperaments, ob man Schematisierungen befürworten möchte, die vor allem Arbeitgebern die Sicherheit geben, ihre Stellen nicht „falsch“ zu besetzen. Vieles spricht dafür, dass wir längst in einer Form des Kapitalismus leben, in der Standardisierung und Normierung, wie sie für den Industriekapitalismus typisch sind, eine immer geringere Rolle spielen.

Folgt man der jüngsten Studie des Soziologen Andreas Reckwitz, „Die Gesellschaft der Singularitäten“, dann lässt sich die spätmoderne Form der Ökonomie als „Kulturkapitalismus“ beschreiben. Wie früher bei kulturellen Phänomenen geht es seit den 1980er Jahren auf verschiedenen Märkten immer stärker um die Wertschätzung des Besonderen. Das gilt für Subjekte wie für Dinge und Erlebnisse. Wenn das zutrifft, ist es unwahrscheinlich, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse durch geduldige Verschiebung der Norm verändern lassen. Womöglich sind Frauen besser beraten, wenn sie die Umwälzung, die längst stattgefunden hat, realisieren und aufhören, Normen zu befolgen, die sie gängeln und behindern.

Iris Bohnet: What works. Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann. Aus dem Englischen von Ursel Schäfer. C. H. Beck, München 2017. 382 Seiten, 26,95 €.

Meike Feßmann

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