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Umstrittener Philosoph. Giorgio Agamben.

© Dario J. Lagana

Giorgio Agamben tritt gegen Corona-Maßnahmen auf: Philosoph sieht Italien auf dem Weg in die Diktatur

Premier Draghi ermutigt seine Landsleute erneut zum Impfen. Der berühmteste Philosoph des Landes hält die Corona-Maßnahmen dagegen für das Ende der Freiheit.

Angesichts steigender Covid-Zahlen hat Italiens Regierung die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie weiter verschärft. Inzwischen gilt eine Impfpflicht für alle über 50-Jährigen. Der Premier wiederholte am Montag den Appell an seine Landesleute: "Wir sollten nicht vergessen, dass ein großer Teil der Probleme, die wir heute haben, mit den Nichtgeimpften zu tun haben. Ich bitte alle, die noch nicht geimpft sind, das zu tun, auch per Booster-Impfung."

Dass die Verweigernden zwar eine kleinere Minderheit sind - 80 Prozent der Bevölkerung sind mindestens einmal geimpft - aber dafür eine hartnäckige, könnte auch mit Teilen von Draghis eigener Regierung zu tun haben: Die Rechte, die mit am Kabinettstisch sitzt, ist in der Frage mindestens gespalten und uneindeutig.

Im vergangenen Herbst wurde sogar einem prominenten Impfgegner die Ehre zuteil, vor der zweiten Parlamentskammer zu sprechen. Der 79-jährige weltbekannte Philosoph Giorgio Agamben verbreitete sich vor dem Senat über das Ende der Freiheit durch die aus seiner Sicht übertriebenen Corona-Maßnahmen und die Gefahren des Impfens.

Praktisch seit Beginn der Pandemie führt Agamben seinen Kampf gegen die Corona-Bekämpfung, zuerst mit einem Artikel in der linken Tageszeitung "il manifesto", in der er sich über die bloß "vermutete Epidemie" ausließ und von „hektischen, irrationalen und völlig grundlosen Notfallmaßnahmen“ schrieb.

Dass er im Oktober sogar das Parlament als Bühne bekam, ging dann auch seinen Kolleginnen und Kollegen zu weit. In einem Aufruf "Es gibt nicht nur Agamben" rechneten mehr als 100 Philosophinnen und Philosophen aus Italien mit dem Berühmtesten von ihnen ab: Man sei "verblüfft", dass der Beitrag der Philosophie zur öffentlichen Debatte über Covid-Impfungen und die Pflichtimpfung "sich auf Denker wie Giorgio Agamben beschränkt", die nichts anderes repräsentierten als sich selbst.

Er spricht vom "Feind" und "neuen Strategien"

Man distanziere sich von Aussagen wie der, dass die Impfstoffe unerprobt eingesetzt worden seien und auch von Agambens Vergleich der Corona-Maßnahmen mit Diktaturen wie der Sowjetunion: "Wir stecken in einem Gesundheitsnotstand, der nichts mit anderen Ausnahmezuständen zu tun hat (wie zum Beispiel dem Anti-Terror-Kampf)", heißt es in dem Brief der Philosoph:innen. Die Lage verlange Maßnahmen, die es von jeher gegeben habe, "man denke nur an die Massenimpfungen während der Cholera - 1973! - in Neapel".

Die Proteste gegen seine Thesen haben Agamben nicht gebremst; vor ein paar Wochen hat er nachgelegt. Mit weiteren Männern aus dem akademischen Milieu, dem Turiner Jura-Professor Ugo Mattei, Massimo Cacciari, Ex-Bürgermeister von Venedig und Philosophie-Professor wie Agamben, und dem früheren Chef des öffentlichen Fernsehsenders Rai 2 Carlo Freccero, gründete Agamben die "Kommission Zweifel und Vorbeugung"

Während die Zweifel – am Virus und den Maßnahmen – klar sind, wurde der Teil „Vorbeugung“ auf der kruden Gründungsveranstaltung nur angedeutet: Es sei jetzt nicht die Zeit für Kongresse, sagte Agamben während des Treffens, das auf Youtube gestreamt wurde. „Was wäre wohl gewesen, wenn man den Widerstand gegen Hitler auf Kongressen organisiert hätte?

Angesichts einer Regierung, die das Recht missachtet, scheint mir das sinnlos; es gibt keine Legalität mehr.“ Und der „Feind“, den man vor sich habe, sei „intellektuell und spirituell nicht lebendig“, man brauche gar nicht erst versuchen, ihn zu überzeugen. „Wir müssen neue Strategien finden.“

Während die Fans des Meisters im parallelen Chat ihn schon zur Kandidatur fürs Staatspräsidentenamt vorschlugen oder zum Sturm des öffentlichen Nahverkehrs aufriefen - ohne Impfausweis natürlich -, nahm Agamben die Kurve gegen den Vorwurf, er könne hier zur Gewalt aufgerufen haben: Schlüsse zu ziehen, das sei nicht seien Sache. Er hoffe für sich und sein Publikum, dass man „weiter nachdenken“ dürfe.

Sein Mitstreiter Ugo Mattei begründete kurz darauf sein Nein zum Impfen als soziale Erfahrung: Er habe persönlich keine Angst davor, sondern: „Ich habe mich nicht impfen lassen, um ein einziges Mal die Welt aus der Perspektive derer zu sehen, die aus sozialen Prozessen ausgeschlossen sind.“ Als weißer privilegierter bürgerlicher Mann könne er weder schwarz noch eine Frau werden, so der 61-Jährige. Die Erfahrung, die er als Nichtgeimpfter mache, sei insofern „ein großes Geschenk“.

Impfskepsis und Sterberate sind auch in Italien verbunden

Natürlich müsse "die Philosophie der Naturwissenschaft gegenüber eine kritische Haltung einnehmen", hatten im Oktober Agambens Kolleg:innen geschrieben. "Diese Kritik muss aber wissenschaftliche Erkenntnis anerkennen, indem sie sie korrekt wiedergibt".

Dazu hat Italiens nationales Statistikamt Istat vor ein paar Tagen wieder Material geliefert. Es veröffentlichte die Bevölkerungszahlen für 2021. Im letzten Jahr tötete Covid-19 59.000 Italienerinnen und Italiener.

Im Jahr zuvor allerdings, als sich das Virus in Italien früher als anderswo rasch verbreitete und das Gesundheitssystem monatelang an seine Grenzen brachte, starben noch 74.000 Menschen an dem Virus. In einigen besonders hart betroffenen Gegenden der Lombardei - so in Bergamo - wurden zwischen Februar und März 2020 fast viermal so viele Tote registriert.

Das hat sich im Jahr 2021 wohl nicht zuletzt durch die Impfungen verbessert - jedenfalls ist auch dies an den Zahlen des Istat abzulesen: Die Sterblichkeit lag zwar letztes Jahr noch deutlich über den Zeiten vor der Pandemie, nämlich um 8,7 Prozent.

Die Regionen, in denen die Impfquote besonders hoch war - 2021 waren erstmals überhaupt Impfstoffe verfügbar - lagen aber darunter, die in den besonders impfskeptischen Teilen des Landes dagegen deutlich höher: In der Provinz Bozen waren es 13,1 Prozent, in Friaul-Julisch Venetien 12,1, auf Sizilien 11,2, in Kalabrien, den Marken und Kampanien zwischen 10 und 11 Prozent.

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