zum Hauptinhalt
Gilberto Gil, 76 Jahre.

© Reuters/Denis Balibouse

Gilberto Gil im Berliner HKW: Kollektiver Taumel

Ein großartiger Konzertabend: Der brasilianische Sänger Gilberto Gil richtet im Berliner Haus der Kulturen den Blick auf Afrika, die Wiege der brasilianischen Musik.

Der Meister tänzelt erst eine gute halbe Stunde nach der Band auf die Bühne. Lässt die schlanken Hüften kreisen zum blechernen Klang der Doppelglocke Agogô und zelebriert eine afro-brasilianische Liturgie mit Call and Response. Mit 76 Jahren ist Gilberto Gil, Pionier der Tropicália, Grammy-Preisträger und Ex-Kulturminister Brasiliens, noch immer auf Draht. Zwar trägt er keine Dreadlocks mehr, sondern kurzes, grau meliertes Haar, doch er richtet den Blick nach wie vor auf Afrika, auf die Wiege der brasilianischen Musik.

Sein Konzert auf der Sommerterrasse des Hauses der Kulturen der Welt feiert das 40. Jubiläum von „Refavela“. Mit diesem 1977 in der nigerianischen Hauptstadt Lagos aufgenommenen Album schlug der Sänger und Gitarrist erstmals eine Brücke zur Juju-Musik und zu Féla Kutis funkelndem Afrobeat. Zugleich brachte Gil einige westafrikanische Instrumente nach Brasilien, darunter das Balafon, ein Xylophon mit Kürbisresonatoren, dem er auf „Refavela“ einen Song widmete. Wie alle zehn Stücke des Albums klingt „Balafon“ in der aktuellen Version fülliger, komplexer und dezidierter. Die zehn Musiker liefern eine Art brasilianischen Afrobeat mit synkopierten Trommelwirbeln, knackigen Bläsersätzen (Saxofon und Trompete), groovendem Bass und rockiger E-Gitarre. Darüber schweben ein luftiges Akkordeon, das Stakkato des Balafons und Gils kehliger Gesang.

Die Menge tanzt, die leuchtenden Displays der Smartphones gleichen tropischen Glühwürmchen. Gilberto Gil gibt den Musikern viel Raum zu Entfaltung. Mit dem wunderbaren Akkordeonspieler Mestrinho singt er die Ballade „Aqui e Agora“, begleitet von zarter Querflöte und Gitarre. Dann stimmt die Sängerin Chiara Civello von ihrem Keyboard aus einen Gesang an, in dem die harmonische Langmut des Bossa Nova zur Geltung kommt, Tom Jobims „Samba do Avião“ endet jedoch in einem regelrechten Soul. Hier sind die Erben der Tropicália am Werk: Gilberto Gil hatte sich Ende der sechziger Jahre im Londoner Exil mit Musikern von Pink Floyd und Yes zu spontanen Sessions getroffen und den Bossa Nova seiner Vorbilder mit Pop, Rock’n’Roll und Reggae angereichert. Später kam die Fusion mit Stilen aus Afrika hinzu.

Rhythmische Brandung und etwas Melancholie, das sind Gilberto Gil und sein Ensemble

Gil stellt Sängerin Maria Andrade von den Kapverden vor; die Inselgruppe vor der westafrikanischen Küste liegt genau in der Strömung zwischen Europa, Afrika und Südamerika. Sie interpretiert eine mächtige Coladeira, während Gil die Rasseln schwingt. Rhythmische Brandung, dazu eine melancholische Brise.

Als schließlich seine Version von Bob Marleys „Everything’s Gonna Be Alright“ erklingt, ist im Publikum kein Halten mehr. Und spätestens jetzt kann man die Schwaden jenes berauschenden Heilkrauts riechen, dessen Name ein weiteres Album von Gil geprägt hat: „Kaya N’Gan Daya“. Großer Jubel, kollektiver Taumel.

Roman Rhode

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false