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Gianna Molinari kam 1988 in Basel zur Welt und lebt in Zürich.

© Christopher Oeschger

Gianna Molinaris Debütroman: Rost kennt keine Grenzen

Favorit beim Deutschen Buchpreis: Das Romandebüt „Hier ist noch alles möglich“ der Schweizer Autorin Gianna Molinari erzählt von Migration und Wölfen.

Eines ist in diesem Lesesommer klar: Skiapoden haben es gut! Schließlich sind diese Einbeiner vor jeder noch so langen Sommerglut gefeit. Die Inselbewohner, die sich durch blitzschnelles Hüpfen fortbewegen, müssen sich nur auf den Rücken legen, ihr Bein in die Höhe strecken, und schon spenden sie sich selber Schatten. Weshalb sie auch „Schattenfüßler“ genannt werden. Jahrtausendsommer, ihr könnt kommen!

Die Heimat dieser putzigen Solitäre, die vor ihresgleichen flink davonhüpfen, gehört zu den Fantasie-Inseln der Ich-Erzählerin in Gianna Molinaris Romandebüt. Zwischen ihren Alltagsbeobachtungen und Reflexionen denkt sie sich immer wieder seltsame Eilande aus, mit unbekannten Insekten, einsamen Schäfern oder den letzten Überlebenden einer Massenvergiftung. Man tut gut daran, die Imaginationen als metaphorische Selbstbeschreibungen zu verstehen, ist doch auch die namenlose Protagonistin eine eher selbstgenügsame Einzelgängerin wie besagte Skiapoden.

Die Protagonistin arbeitet als Nachwächterin in einer Fabrik

Und in Sachen Einsatz ist sie sozusagen der Traum jedes Arbeitgebers. Denn nachdem die junge Frau ihr altes Leben hinter sich gelassen und alle Brücken abgebrochen hat – Bibliotheksjob und Wohnung gekündigt, das Konto aufgelöst –, wird sie nicht nur Nachtwächterin bei einer Verpackungsfabrik. Sondern richtet sich dort mit dem Segen des Chefs praktischerweise auch gleich häuslich ein, in einer leerstehenden Halle. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett: Die Frau liebt es spartanisch und verwandelt den Nicht-Ort Fabrik im Handumdrehen in eine neue Heimat.

Ihr Grund für den Wechsel von der Bibliothek zur Fabrik ist allerdings seltsam genug: „Ein guter Ort“ sei der Betrieb, denn: „Hier ist noch alles möglich.“ Überhaupt sind ihre Erwartungen an ihren Neuanfang nicht gerade gering: „Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich.“

Der Koch träumt von einer Karriere auf einem Raumschiff

Warum ihr das aber ausgerechnet auf diesem Werksgelände gelingen soll, erscheint zunächst wenig plausibel, zumal der Möglichkeitshorizont der Fabrik begrenzt ist. Eine Zukunft jedenfalls hat sie nicht mehr, sind es bis zur endgültigen Schließung doch nur noch wenige Tage. Überall bröckelt der Putz, das Unkraut wuchert, der Zaun ist löchrig, die wenigen verbliebenen Mitarbeiter halten längst Ausschau nach neuen Jobs, etwa am nahe gelegenen Flughafen. Und der Kantinenkoch produziert, sofern er nicht von einer Karriere als Koch auf einem Raumschiff träumt, seine selbstkreierte „Suppe en bloc“ vor allem für die Tiefkühltruhe.

Letztlich ist es aber jener Koch, der den Grund dafür liefert, dass die Fabrik neue Nachtwächter einstellt. Will er doch bei den Abfallcontainern etwas gesehen haben, was in der Fabrik umgehend menschliche Urängste wachruft: einen Wolf. Dessen mögliche Existenz – ob es ihn wirklich gibt, bleibt offen – lässt gerade dem Chef keine Ruhe, will er sich doch „zum Ende hin keine Fehler erlauben“.

Dass ihn die „Bestie“ mehr beschäftigt als die bevorstehende Schließung, zeigt, dass es hier eher um die Rückgewinnung verlorener Kontrolle geht als um eine reale Bedrohung. Mit der Folge, dass die Ich-Erzählerin nicht nur, im schichtweisen Wechsel mit ihrem Kollegen Clemens, die zig Monitore im Überwachungsraum im Blick haben muss. Sondern bald auch mit dem Absuchen von ausgelegten Tellereisen und sogar dem Graben einer Fallgrube beschäftigt ist, und das, während sie zugleich eine immer größere Nähe zu dem ominösen Wolf entwickelt.

Das Mittelstück des Romans wurde in Klagenfurt ausgezeichnet

Gianna Molinaris Roman setzt somit die Reihe an deutschsprachigen Gegenwartstexten fort, die von heimischen Raubtieren wie Wölfen oder Füchsen bevölkert werden, man denke nur an die Werke von Annika Scheffel, Lutz Seiler oder Roland Schimmelpfennig. Dabei assoziiert schon die Motivik des knapp 200-seitigen Romans, von dem von allerlei Vorurteilen umstellten Eindringling über den Überwachungsfuror bis zu den Meditationen der Erzählerin über die Durchlässigkeit von Grenzen, Gedanken an die Flüchtlingskrise. In der zweiten Hälfte des Romans manifestiert sich diese jedoch auch noch durch den „M.d.v.H.f.“, den „Mann, der vom Himmel fiel“.

Das brillante Mittelstück des Roman, für das die 30-jährige Schweizer Autorin letztes Jahr in Klagenfurt den 3sat-Preis gewann, handelt von einem realen, sogar buchstäblichen Fall: dem eines nicht identifizierbaren Afrikaners, der sich im April 2010 in der Fahrwerkkammer eines nach Zürich fliegenden Flugzeugs versteckt hatte. Der Mann war offenbar schon während des Fluges erfroren; in Molinaris Roman wurde seine Leiche Jahre vor der Handlung im Waldgebiet neben der Fabrik gefunden und sorgt seitdem bei so manchem Mitarbeiter für eine anhaltende Erschütterung des Weltvertrauens.

Molinaris Roman wird zu den Favoriten des Buchpreises gezählt

Auch die Protagonistin wird, neben ihrer Beschäftigung mit der möglichen Existenz eines Wolfes, immer mehr von dem namenlosen Toten affiziert. In lapidaren, emotional entschlackten Sätzen von großer Eindringlichkeit spielt die junge Frau beständig alternative Abläufe und fiktive Realitäten durch („Ein Mann, der nicht vom Himmel gefallen wäre, der hätte eine Familie gehabt oder nicht, der hätte Kinder gehabt oder kinderlos bleiben wollen“). Oder sie ergänzt auf ihrer Suche nach „Wirklichkeit“ ihr Exemplar eines „General-Universal-Lexikons“ um neue Einträge („ROST: Der Rost kennt keine Grenzen“).

So wird in Gianna Molinaris Roman, der zu Recht zu den Favoriten auf den diesjährigen Deutschen Buchpreis zählt, die Verunsicherung des Gegenwartssubjekts mit der globalen Migrationskrise auf eindrucksvolle Weise kurzgeschlossen. „Hier ist noch alles möglich“ ist die richtige Lektüre in einer Zeit, die in ihrer Hilflosigkeit die „Fiktion der Nichteinreise“ erfindet und Lebensretter vor Gericht stellt.

Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich. Roman. Aufbau Verlag, 2018, 192 Seiten, 18 €.

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