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Wer sagt hier was? Eine Szene von fast vollendeter Selbstreferenzialität – popästhetisch voll korrekt.

© Getty Images/iStockphoto

Geschmack im Wandel der Zeiten: Das Cute ist das Gute

Mehr Pop, bitte: Die Germanisten Moritz Baßler und Heinz Drügh versuchen sich an einer „Gegenwartsästhetik“.

Von Gregor Dotzauer

Der Titel hat etwas von einem weißen Schimmel. Schließlich ist jede Ästhetik, die nicht ewige philosophische Wahrheiten zu formulieren meint, Gegenwartsästhetik. Sie entwirft ihre Kategorien auf der Basis wandelbarer Verhältnisse, und sie muss dabei sowohl aktuellen Phänomenen gerecht werden wie vergangenen. Moritz Baßler und Heinz Drügh zitieren zurecht die Theoretikerin Juliane Rebentisch, mit der sie sich darin einig sind, dass jede Kunst im emphatischen Sinn zeitgenössisch sei: Sie entfaltet ihre Wirkung, gleich, wie alt sie ist, zwangsläufig in der Gegenwart des Betrachters, des Hörers oder des Lesers.

Die „Gegenwartsästhetik“ der beiden Germanisten muss man von daher polemisch verstehen. Seht her, ruft der Text immer wieder, die Alte-Säcke-Ästhetik des 20. Jahrhunderts gehört auf den Müll. Und um das schon stilistisch zu unterstreichen, werfen Baßler und Drügh gerne ein „yes!“, ein „you name it“, ein „wow“ oder ein „hö hö“ in ihre Nominalkonstruktionsprosa.

[Moritz Baßler, Heinz Drügh: Gegenwartsästhetik. Konstanz University Press 2021. 307 Seiten, 28 €.]

Der Gegner wird offen benannt. Es ist die „Unmittelbarkeitsfraktion“, unter der man sich Kunsttheoretiker vorstellen muss, die an Erfahrungen von Präsenz, von Unmittelbarkeit, ja von Aura festhalten. Mit Händen und Füßen wehren sich Baßler und Drügh gegen ein „emphatisches Verhältnis zur ,großen Kunst“, das nach wie vor das Gros ästhetischer Theorien prägt“. Tatsächlich ist ein strenges „Reinheitsgebot gegenüber den heteronomen Einflüssen vor allem des Marktes und der Medien“, wie sie es der „emphatischen Ästhetik von Heidegger, Adorno und Lyotard bis Rancière“ zuschreiben, überholt. Doch wer würde es noch ungehindert vertreten?

Adorno bekommt sein Fett weg

Insbesondere Theodor W. Adorno, dessen „Ästhetische Theorie“ der ehrgeizigste Versuch sein dürfte, eine nachmetaphysische Kunst zu definieren, die weder die Begriffe des Schönen und Erhabenen noch das Kritische preisgibt, bekommt in diesem Zusammenhang sein Fett weg. Was die Autoren bei allen Beteuerungen, die soziale Dimension von Kunst nicht aus dem Blick zu verlieren, allerdings stattdessen anbieten, ist von bestürzender Einfalt.

Nicht nur, dass sie sich an einem Adorno abarbeiten, der als elitärer Kritiker der Kulturindustrie schnell abgeräumt ist, während der Ästhetiker weiter eine Herausforderung darstellt, sie betreiben ihrerseits nur ein in die Jahre gekommenes Projekt der Generation Pop.

Baßler und Drügh haben durchaus eine umfassende Theorie der Kunst im Sinn, hebeln diese aber, mit Exkursen zum Anthropozän, zur Demokratisierung und Digitalisierung zeitgemäß aufgemotzt, zugunsten einer reinen Alltags-, Konsum- und Warenästhetik gleich wieder aus. Mit dem Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich beschreiben sie kulturelle Artefakte als bloße Einrichtungsgegenstände eines distinktionsversessenen Bewusstseins: „Wer einen Turnschuh erwirbt, soll heute die Chance haben, sein Leben ähnlich zu fiktionalisieren wie ein Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, der das Nibelungenlied oder Felix Dahns ,Ein Kampf um Rom’ (1876) las.“

Man muss, wenn man das nirgends ausgeleuchtete Bannwort des Buches noch einmal bemühen will, nicht einmal ein emphatisches Verhältnis zur Kunst unterhalten, um darin eine Gleichmacherei zu erkennen, mit der sie sich die Grundlage der eigenen germanistischen Arbeit entziehen. Und es kommt noch schlimmer.

In ihrer Polemik gegen alles, was nach Frankfurter Schule riecht, mutmaßen sie, dass die Geringschätzung populärer Phänomene die „Reaktion einer gekränkten Avantgarde“ sein könne, „die erleben musste, dass das emanzipierte Publikum, sobald es tatsächlich wählen konnte, sich weniger für Pollock, Robbe-Grillet und Webern interessierte als für Donald Duck, J.R.R. Tolkien und Elvis.“

Pappkameraden im Nahkampf

Hier treten endgültig Pappkameraden gegeneinander an. Abgesehen davon, dass den Autoren jede tiefere Kenntnis von Jackson Pollocks Action Painting, Alain Robbe-Grillets in mancher Hinsicht sogar popaffiner Oberflächenästhetik und Anton Weberns Zwölftonpillen abzugehen scheint, muss man Entenhausen, Mittelerde und Graceland längst nicht mehr ästhetisch nobilitieren.

Die Tauglichkeit dieser Gegenwartsästhetik würde sich da erweisen, wo sie mit einem unemanzipierten Publikum und, sagen wir, Helene Fischer zurechtkommen müsste. Dafür aber ist sie viel zu sehr in ihrem eigenen Kosmos gefangen – mit Diedrich Diederichsen als Ersatz-Adorno und Reminiszenzen an den US-Punk von Black Flag oder dem Hamburger Hiphop von Deichkind.

Nicht zufällig beginnt das Buch mit einer Würdigung der visuellen Witze von Quentin Tarantinos Film „Once Upon a Time … in Hollywood“. In solchen konkreten Passagen leisten Baßler und Drügh Erstaunliches. Problematisch wird es, wo sie nach einer systematischen Grundlage suchen. Mit Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“, die ihnen auch zupass kommt, weil der Philosoph ästhetische Geschmacksfragen nicht mit Beispielen aus der Kunst, sondern mit alltäglichen Erfahrungen verknüpfte, fahren sie schweres theoretisches Geschütz auf, das sich in einem bloßen Knallpistolenpeng entlädt.

Mit der amerikanischen Kulturtheoretikerin Sianne Ngai interessieren sie sich für das „Cute“, das Süße, Niedliche oder Schnuckelige, oder was der Jargon sonst noch so hergibt: nice, weird, deep, bad, wavy, krass, fett oder supergeil. Ästhetische Urteile, die sich weniger auf Eigenschaften von Gegenständen beziehen, als auf die Modi, in denen man sie wahrnimmt. Das geht so lange gut, wie sie die Weirdness an Texten erproben, die selbst innerhalb solcher Wahrnehmungsmodi operieren.

Die Kronzeugen heißen Leif Randt („Allegro Pastell“), Joshua Groß („Flexen in Miami“) oder Juan S. Guse („Miami Punk“). Da sind ihre Beobachtungen stark. Als Grundlage einer allgemeinen Ästhetik kommen sie damit nicht besonders weit. Wo ist das Gedicht, das zwischen Monika Rinck, Ann Cotten und Dagmara Kraus zahlreiche Anknüpfungspunkte bieten würde? Wo die literarische Non-fiction? Wo das Theater? Wo der Jazz? Wo jenseits von Tarantino der Film? Diese Gegenwartsästhetik ist eine Schmalspurästhetik.

Codes und Leidenschaften

Zugleich verengt sich die theoretische Perspektive durch ein Modell, das sie von dem Medienwissenschaftler Jochen Venus übernehmen. Er geht in der Kunst von drei Bildtypen aus. Der erste ist der Abbildrealismus, der zweite die ganz auf die eigenen Gesetze von Farbe und Form bezogene Abstraktion, der dritte die auf Serie angelegte Selbstbezüglichkeit von Motiven – wie er sie in Donald Duck und dessen Lebenswelt verkörpert sieht. Für Baßler und Drügh ist diese dritte Variante so interessant, weil sie, mit einem immer wieder verwendeten Begriff, „Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels“ hervorbringt: eingeschworene Fanclubs, deren Codes man teilen muss, um die entsprechenden Leidenschaften zu verstehen.

Da betritt man ein Pop-Terrain, das sie vom Verdacht befreien wollen, „bunte, einlullende, im Grunde aber unterdrückende Gleichschaltung“ zu liefern. Wird, so fragen sie, „nicht die gemeinschaftsstiftende Seite der ganzen Sache schlicht übersehen? Die Tatsache, dass es in der sozialen Zirkulation von Bildern und Texten neben der tendenziell postdemokratischen Seite auch den Aspekt der Konvergenzkultur gibt?“ Es ist legitim, auch diesen Aspekt zu nennen. Auf welch dünnem Eis sich ihre Argumentation bewegt, zeigt aber fast jede gedankliche Gegenführung.

„Die sozialen Medien, die hyperkommodifizierten Oberflächen“, behaupten sie etwa, „bilden nicht den (bösen) Hintergrund, gegen den eine (gute) Ästhetik etabliert oder Emotionen generiert und prozessiert würden, sondern sie sind es, die Ästhetik und Emotionalität allererst prägen und codieren.“ Wenn sie aber das bürgerliche Autonomieideal des ästhetischen Geschmacks ablehnen, ein Feld, auf dem es neben Übung, Verfeinerung und Veredelung auch um „Abrichtung“ gehen soll, gilt diese Konditionierung nicht in viel höherem Maß für Pop-Phänomene?

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Der gesamte zweite Teil des Buches besteht im Versuch, die Gefahren der Selbstreferentialität zu bannen. Besonders enttäuschend ist das Kapitel über das Anthropozän, das die Chance gehabt hätte, das Potenzial einer Popästhetik im Angesicht der ökologischen Bedrohung auszuschöpfen. Doch Baßler und Drügh scheinen nichts von den kulturwissenschaftlichen Debatten wahrgenommen zu haben, die rund um den Begriff des Nature Writing entstanden sind. Debatten, die alles andere als ein naives Verhältnis von Kunst und Natur – oder dem, was von ihr übriggeblieben ist – statuieren. Stattdessen feiern sie die wissenschaftlich haltlosen Fantastereien der Anthropologin Donna Haraway und ihrer Träume von gattungsüberschreitender Kommunikation.

Ästhetisch herabgesunkenes Bildungsbürgertum

Dabei suchen die Autoren geradezu verzweifelt nach einem Standpunkt, der Kritik ermöglicht. Moritz Baßlers Attacke gegen den literarischen „MidCult“, Bücher von Takis Würger, Bernhard Schlink oder Juli Zeh, in denen ein ästhetisch herabgesunkenes Bildungsbürgertum Befriedigung findet, ließ sich noch in Übereinstimmung mit poptheoretischen Argumenten führen. Sein unter großer Anteilnahme deutscher Feuilletons in der Zeitschrift „Pop – Kultur und Kritik“ veröffentlichter Essay findet sich hier fast wörtlich wieder.

Andere Themen verlangen nach einem breiteren Ansatz. Die Frage der kulturellen Aneignung, die Baßler und Drügh an einem Gemälde von Dana Schutz diskutieren, die dafür angeprangert wurde, dass sie als Weiße Emmett Till, einen ermordeten Schwarzen, im Sarg gezeigt hatte, sprengt das rein Ästhetische. Es ist den Autoren anzurechnen, dass sie die aktuelle Verschiebung von künstlerischer Ambiguität zu didaktischen Aufträgen so genau wie möglich nachvollziehen wollen: „Das Ästhetische wird ethisiert", so ihr Fazit, „das Ethische dabei aber, wenn man so will, zugleich ästhetisiert.“

Wenn sie in Politisieren geraten, wird es mitunter lächerlich. „Unter den Bedingungen des Marktes gibt es keine ,natürliche’ Entscheidung“, heißt es zuerst völlig zutreffend: „Vor dem Regal mit Turnschuhen, Frühstückscerealien oder Salatölen kann man ,nicht nicht wählen’.“ Dann aber folgt ein Satz, der wie ein Werbespruch der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft klingt: „Aber ist dieser Zwang zur Wahl nicht grundsätzlich der Unfreiheit vorzuziehen? Mitte des 19. Jahrhunderts ist noch ein Drittel der irischen Bevölkerung ausgewandert, als die Kartoffelernte ausfiel.“ Das wird weder der Situation der westlichen Überflussgesellschaften noch denen des globalen Südens gerecht.

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