zum Hauptinhalt
Wie sich die Bilder gleichen. Junge Menschen demonstrierten 2008 zum 22. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.

© Andrei Liankevich/dpa

Geschichtsbewusstsein in der Krise: Wie der Blick zurück in diesen Zeiten helfen kann

Die Coronakrise bindet unsere Aufmerksamkeit ganz an die Gegenwart. Die historische Perspektive kann jedoch mehr als nur Zuversicht spenden. Ein Gastbeitrag.

Martin Sabrow ist Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Es ist nicht die Stunde der Historiker. In die politische Abwägung der geeignetsten Instrumente zur Eindämmung der mit dem Coronavirus ausgebrochenen Seuche sind neben Virologen und Epidemiologen vor allem Ökonomen und Soziologen eingebunden. In der Diskussion um die Priorisierung medizinischer Maßnahmen werden ethische und philosophische Argumente abgewogen, kaum aber historische.

Denselben Befund ergibt der Blick in den Gedenkkalender. Ferngerückt ist die vor wenigen Wochen noch so starke Empörung über die gezielten Provokationen des Rechtspopulismus, die die NS-Herrschaft als „Vogelschiss“ abtun wollen oder kokette Wortspiele mit dem Namen von Vernichtungslagern treiben.

Gleiches gilt für eben noch wichtige Erinnerungsdaten. Ohne größeres publizistisches Echo blieb der 100. Jahrestag des Kapp-Lüttwitz-Putsches vom März 1920; abgesagt wurden die aufwendig geplanten Erinnerungsfeiern zu Ehren des 75. Jahrestags der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager von Buchenwald oder Sachsenhausen im April 1945.

Der Streit um das Hohenzollernerbe ist unbemerkt erloschen, und der jahrelang so erbittert umkämpfte Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche scheint ebenso vom Dunkel verschluckt wie das identitätspolitische Gezerre um anstößige Straßennamen.

Warum ist die Vergangenheit in der Krise schlicht nicht systemrelevant? Covid-19 hat im Erwartungshorizont der Zeitgenossen keinen Erfahrungswert, die vorher unbekannte Suche bedeutet den Einbruch des Unvorstellbaren in eine Lebenswelt, die sich gerade in Europa ihrer historischen Gewordenheit so sicher wusste wie ihrer voraussehbaren Entwicklungsrichtung.

Der Ausnahmezustand macht Geschichte, indem er mit ihr bricht

Die Magie historischer Jubiläen, die vom Alter zerfurchten Gesichter der Zeitzeugen überwundener Schreckenszeiten, die immer größeren Anstrengungen zur Erhaltung von Gedenkstätten in ihrem baulichen Originalzustand – sie bürgten für die Festigkeit einer Ordnung, die für die Möglichkeit ihrer eigenen Auflösung keinen Vorstellungsraum mehr hatte.

Die plötzlich wiedergekehrte Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und um das nackte Leben trifft uns unvorbereitet, sie zerstört eine Sicherheit, die sich historisch gefestigt glaubte. Der Ausnahmezustand macht Geschichte, indem er mit ihr bricht.

Doch gerade weil der historische Blick im Angesicht der Krise keine Systemrelevanz hat, besitzt er besondere Orientierungsrelevanz, und dies in mehrfacher Hinsicht. An erster Stelle steht auch heute wie in jeder Krise unserer Zeit der prospektive Blick, der sich dafür interessiert, welche Lehren die Vergangenheit bereithält.

Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:

In den Warnungen vor einer verfrühten Lockerung der einschneidenden Schutzmaßnahmen fehlt der Hinweis nicht, dass zuerst die im Frühjahr 1918 ausgebrochene und ein halbes Jahr später wiederkehrende Spanische Grippe ihre tödliche Kraft erst in ihrer zweiten und dritten Welle entfaltete.

Der Vergleich der damals so gegenläufigen Infektionsschicksale von St. Louis und Philadelphia belegt eindrucksvoll, wie effektiv rasch und radikal durchgeführte Quarantänemaßnahmen wirken können. Auch die jüngst zutage tretende Spur, dass viele coronabedingte Todesfälle auf unentdeckt gebliebene Lungenembolien zurückzuführen sein könnten, lassen sich mit damaligen Krankheitsverläufen in Beziehung setzen.

Während der zweiten Welle der Spanischen Gruppe, um deren virale Ursache man damals nicht wusste, erlagen insbesondere die physisch kräftigsten Jahrgänge einem durch verstopfte Lungenarterien verursachten Erstickungstod.

Alte Wunden brechen auf

Der Blick auf den Reaktorunfall von Tschernobyl von 1986 wiederum führt die verhängnisvollen Folgen einer restriktiven Informationspolitik vor Augen. Die Kernschmelze in der Ukraine sensibilisierte für den Charakter einer Bedrohung, die man weder sehen noch fühlen kann und die sich um politische Grenzen nicht schert.

Der Finanzcrash von 2008 schließlich, der am Börsenkrach von 1929 gemessen wurde, dient heute als Vergleichsmaßstab zur Abschätzung der weltwirtschaftlichen Erschütterung, die die aktuelle Pandemie hervorruft.

Der in diesen Wochen insbesondere zwischen Rom und Berlin entflammte Konflikt um die geeigneten finanzpolitischen Strategien zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise schließlich erneuert die schon 2008 sichtbar gewordene Nord-Süd-Spaltung in der EU, und aus dieser bedrohlichen Kontinuitätslinie lässt sich auf die Gefahr schließen, die ein ideologischer Grundsatzstreit um die europäische Vergemeinschaftung nationaler Schulden für die Zukunft Europas bedeuten könnte.

Geschichte leistet Kontingenzbewältigung

So einzigartig, wie es zunächst schien, ist auch diese weltumspannende Pandemie keineswegs. Geschichte leistet Kontingenzbewältigung, indem sie darauf aufmerksam macht, dass Epidemien einen unausrottbaren und beständig wiederkehrenden Teil der Menschheitsgeschichte ausmachen, dessen Vernachlässigung sich nicht so sehr dem medizinischen Fortschritt verdankt als vielmehr der eigenen Borniertheit, und dies bis in die jüngste Vergangenheit.

Dass die asiatische Grippe 1957/58 über eine Million Menschen das Leben kostete, hat sich zu unserem Schaden dem kollektiven Gedächtnis kaum eingeschrieben, und fast vergessen ist auch die Hongkong-Grippe von 1968/69, die zusammen mit der Russischen Grippe 1977/78 und den verschiedenen Virusepidemien seit der Jahrhundertwende das Bild einer trotz allen medizinischen Fortschritts überaus vulnerablen Globalgesellschaft zeichnen.

Der Blick zurück kann Zuversicht erzeugen

Der historische Vergleich relativiert die zeitgenössisch erlebte Tiefe historischer Zäsuren, und er dämpft die Wucht der Augenblickserfahrung. Ohne die genozidale Wirkung der Krankheitskeime, die die vordringenden Europäer auf die indigene Bevölkerung übertrugen, gäbe es weder die heutige Staatenwelt noch die Kulturkreise Nord- und Südamerikas.

Der Blick zurück kann auch Zuversicht erzeugen: Menschheitskatastrophen eröffneten immer auch Fortschrittschancen. Das Massensterben an der Pest, die die europäische Zivilisation in der Mitte des 14. Jahrhunderts heimsuchte, führte zu einem Anstieg der Arbeitskosten, und eben dies ließ das Spätmittelalter zu einer Epoche technischer Neuerungen mit weitreichenden Wirkungen über die Erfindung des Buchdrucks hinaus werden – auf das Jahrhundert des Schwarzen Todes folgte das Zeitalter der Renaissance.

Missernten und Choleraepidemien begleiteten das „Jahr ohne Sommer“ nach dem Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora 1815, weil die in den Äther geschleuderten Aschemassen die Sonne rund um den Globus verfinsterten und für einen weltweiten Temperaturrückgang sorgten. Aber das Hungertod und Seuchenausbruch nach sich ziehende Unheil bedeutete zugleich den Beginn der modernen Hygienewirtschaft, die zur Entstehung der städtischen Kanalisation führte, und trieb mit der Einführung der Mineraldüngung die Revolutionierung der Landwirtschaft voran.

Vor- wie rückschauende Perspektiven liefern Erkenntnisse, die uns mit Jacob Burckhardt „klug für ein andermal“ werden lassen. Um darüber hinaus aber durch historische Unterrichtung „weise für immer“ zu werden, bedarf es einer dritten, gleichsam introspektiven Blickrichtung, die uns zur Distanz gegenüber dem Heute verhilft, indem sie Gegenwart als „zukünftige Vergangenheit“ (Lucian Hölscher) zu fassen sucht.

Corona wird womöglich eine historische Zäsur werden

Womöglich wird die Corona-Krise den neuen Fluchtpunkt eines zeithistorischen Denkens bilden, das diesen Platz fast eine Generation lang allein dem abrupten Ende des Kommunismus in Europa 1989/90 zugebilligt hatte.

Manches spricht dafür, dass 2020 einst das Datum des endgültigen Übergangs vom analogen in das digitale Zeitalter markieren wird, in dem die reale durch die virtuelle Vergesellschaftung abgelöst wurde, das Meeting durch die Videokonferenz, die Protestdemonstration durch den Shit storm, die sinnliche Erfahrung durch das semiotische Zeichen.

Wie aber werden wir rückblickend erklären, dass unsere Gesellschaft im Monat März des Jahres 2020 binnen Tagen bereitwillig zeitweiligen Abschied von so vielen Werten genommen hat, die unsere liberale Gesellschaftsordnung und kulturelle Tradition gleichermaßen geprägt haben?

Der ausgelaugte Begriff der Krise reicht nicht hin, um diesen über Nacht eingetretenen Wertewandel zu erfassen. Dienlicher ist hier womöglich der Begriff des Ausnahmezustandes, der rechtshistorisch bislang vor allem als das Dilemma diskutiert wurde, die Rechtsordnung durch ihre Aufhebung schützen zu wollen.

Vom Ausnahmezustand in die Normalität

Doch trotz Viktor Orbán in Ungarn und Donald Trump in den USA – nicht in einem drohenden Übergang von der kommissarischen zur souveränen Diktatur und der Machtübernahme eines totalitären Hygieneregimes wird der Fluchtpunkt einer zukünftigen Vergangenheit zu suchen sein.

Die eigentliche Zäsur unserer Zeit mag ein späterer Rückblick vielleicht nicht im staatlichen, sondern im gesellschaftlichen Ausnahmezustand sehen, den wir gegenwärtig erleben. Er jedenfalls wird sich nicht vorbehaltlos gesetzlichen Regularien der Rückkehr zu einem verfassungsmäßigen Normalzustand fügen, sondern einer soziokulturellen Eigengesetzlichkeit folgen, die auch die gerade gängige Techniksprache mit ihrer Rede von den Exit-Optionen einer stillgelegten und wieder hochzufahrenden Gesellschaft nicht überdecken kann.

Gesellschaften überwinden Ausnahmezustände historisch am ehesten, indem sie sie widerstrebend oder emphatisch in Normalität verwandeln. In die Geschichte solcher Wendepunkte könnten zukünftige Zeiten auch die Corona-Krise einordnen: als einen Umbruch des gesellschaftlichen Zusammenlebens, dessen Sogkraft eben noch sicher geglaubte Wertebindungen und Orientierungsmarken nicht nur kurzzeitig, sondern langfristig verändern wird.

Martin Sabrow

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false