zum Hauptinhalt
Märchen für Erwachsene. Andreas Homoki inszeniert 2015 an der Komischen Oper „My Fair Lady“ mit Katherine Mehrling als Eliza Doolittle.

© Iko Freese / drama-berlin

Geschichte des Musicals: Und dann kam „My Fair Lady“

Das Musical hat in Deutschland bis in die Nachkriegszeit einen schweren Stand. Wolfgang Jansen erzählt in seinem Buch die Geschichte der Kunstform auf unterhaltsame Weise.

Joachim Kaiser war not amused: „Kitschiger kann keine Operette, unwahrer kein Film, wohlkalkulierter keine Reklame sein“, ätzte er. Der „böse Reißer“, der den Kritiker erzürnte, war Leonard Bernsteins „West Side Story“.

Im Frühsommer 1961 gastierte die originale Broadway-Produktion in Deutschland – doch in München, Hamburg und Berlin stieß der New Yorker Megahit auf Unverständnis beim Publikum und krasse Ablehnung bei der Presse. Die Tournee wurde ein finanzielles Desaster für die Veranstalter.

In seinem Buch „Musicals. Geschichte und Interpretation“ mag sich Wolfgang Jansen die Bemerkung nicht verkneifen, dass der damals vor Wut schäumende Joachim Kaiser später, als die „West Side Story“ längst zum Klassiker geworden war, seinem „genialen“ Freund „Lennie“ eine vor Lob triefende, publizistische Hommage widmen sollte – nach dem Motto: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.

Jansen hat sich in den vergangenen 35 Jahren als Forscher dem populären Musiktheater gewidmet und sein Wissen unter anderem als Dozent an der Universität der Künste weitergegeben. Seine Aufsätze zum Thema sind so kurzweilig wie gelungene Musical-Inszenierungen. Denn er schaut niemals nur auf die theaterwissenschaftlichen Aspekte, sondern denkt stets auch den gesellschaftlichen Kontext mit.

Die Entwicklung des Musicals in Deutschland erzählt er in seinen jetzt zusammengefassten Schriften als Sozial- und Sittengeschichte. Sie beginnt mit dem Kampf der Nationalsozialisten gegen die jüdisch geprägte Unterhaltungsindustrie der Weimarer Republik. Um Kontrolle über die Kulturszene zu bekommen, werden die privatwirtschaftlich betriebenen Bühnen, in denen Revue und Operette blühen, konsequent verstaatlicht, die Akteure ins Exil getrieben oder ermordet.

Das Ende der Operette

Nach 1945, als im zerbombten Deutschland auch an bespielbaren Sälen Mangel herrscht, entstehen nur die Stadt- und Staatstheater neu, als öffentlich subventionierte Häuser, die auf möglichst große Spielplan-Vielfalt setzen sollen.

En-Suite-Bühnen, die jeweils nur eine populäre Produktion zeigen, so lange das Publikumsinteresse anhält, gibt es fast gar nicht mehr. Die Teilung Deutschlands und die Einführung eines föderalen Systems in der Bundesrepublik verhindert zudem, dass Berlin seine alte Rolle als stilprägende Metropole wieder einnehmen kann. Das Ende des Genres Operette ist damit besiegelt.

Die Remigranten können nicht mehr an ihren Vorkriegsruhm anknüpfen, nachwachsende junge Talente bekommen kaum Chancen: Denn selbst wenn es den Komponisten und Librettisten gelingt, Werke der leichten Muse zur Uraufführung zu bringen, werfen die wenigen Aufführungen, die im Repertoirebetrieb möglich sind, einfach nicht genug Einnahmen ab. Genug Geld für den Lebensunterhalt lässt sich für sie nur noch beim Film, in Funk und Fernsehen verdienen.

Der Bann wird gebrochen

Es bildet sich also ein Kanon von Operetten-Klassikern heraus, der gespielt wird, um nostalgische Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn es um Novitäten geht, wollen die Intendanten lieber neue Musicals aus den USA spielen. So finden einige der Stückeschreiber immerhin neue Jobs als Übersetzer für die Importware. Günter Neumann trägt 1955 mit einer kongenialen Libretto-Nachdichtung entscheidend dazu bei, dass Cole Porters „Kiss me, Kate“ zum ersten Erfolg eines Broadway-Stücks auf deutschem Boden werden kann.

Und dann entbrennt im Herbst 1961, nur vier Monate nach dem durchgefallenen „West Side Story“-Gastspiel, das Berliner Publikum in heißer Liebe zu „My Fair Lady“. In der eleganten Übersetzung von Robert Gilbert wird die Geschichte von Eliza Doolittle und ihrem Professor Higgins zum Blockbuster. Fast zwei Jahre lang läuft die „Lady“ im Theater des Westens, anschließend will jede Bühne das Werk nachspielen.

[Wolfgang Jansen: Musicals. Geschichte und Interpretation. Waxmann Münster 2020, 308 Seiten, 39,90 €.]

Der Bann ist gebrochen, selbst in der Operettenhauptstadt Wien fällt der Widerstand gegen die „landfremde“ Kunstform des Musicals in sich zusammen. Die Intendanten, weiß Wolfgang Jansen zu berichten, sind nun geradezu wild darauf, weitere US-Stücke zu zeigen. Bis 1969 kommen 34 Titel neu auf die Spielpläne.

Doch die Partituren in lebendige Theaterpraxis umzusetzen, ist zunächst gar nicht so leicht für die Häuser. Denn es gibt im deutschen Sprachraum noch keine Bühnenprofis, die gleichgut singen, tanzen und schauspielern können. Staatliche Studiengänge für das Genre werden in der Bundesrepublik erst Ende der 1980er Jahre eingerichtet.

Rio Reiser katapultiert das Musical in die Popmoderne

Die Ensembles sind also wild gemixt aus Sprech- und Musiktheaterleuten, oft helfen Schlagersänger aus. Das funktioniert, solange bei den Musicals Komödienstoffe im Vordergrund stehen. Mitte der Sechzigerjahre aber politisiert sich die Broadway-Szene, wird inhaltlich sozialkritischer, öffnet sich musikalisch für neue Stilrichtungen.

Das Hippie-Happening „Hair“, das seine deutschsprachige Erstaufführung 1968 in München erlebte, markiert den ästhetischen Umbruch zum Rock-Musical. Ab jetzt werden die Stimmen aller Mitwirkenden per Mikrofon verstärkt.

Wobei die Ehre, das Musical in Deutschland aus der Boulevardheiterkeit in die Popmoderne katapultiert zu haben, Rio Reiser gebührt. Am 30. Juni 1967 bringt er zusammen mit seinen beiden Brüdern in Berlin die Beat-Oper „Robinson 2000“ heraus, ausgerechnet am Ort des „My fair Lady“-Triumphs, dem Theater des Westens.

Der „theatralisierte Drogentrip“, wie Wolfgang Jansen das Stück mit der kruden Science-Fiction-Handlung nennt, die auf dem Psychoplaneten Attkins Merlin spielt, wird allerdings ein Reinfall. Ein Mitschnitt existiert nicht, die Manuskripte der Songs gehen verloren.

Und doch entfaltet „Robinson 2000“ nachhaltige Wirkung: nämlich als Inspirationsquelle für Ray Davis von den Kirks, Charlie Watts von den Rolling Stones und Pete Townsend von The Who, die nach Rio Reisers Erinnerungen alle extra aus London für die Premiere in die Mauerstadt gekommen waren.

Sie nehmen ihre Eindrücke mit nach Großbritannien. Zwei Jahre später werden „The Who“ ihre Rockoper „Tommy“ herausbringen, drei Jahre später feiert Andrew Lloyd Webbers „Jesus Christ Superstar“ Premiere.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false