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Lesen mit Verstand und Lupe. Hannah Arendt in ihrer New Yorker Bibliothek.

© R/D

Gesamtausgabe Hannah Arendt: Die bescheidene Aufklärerin

Hannah Arendt in einer Kritischen Gesamtausgabe: Die ersten beiden Bände sind erschienen.

Ich gebe zu, dass ich nicht weiß, wie ich dazu gekommen bin“, erklärte Hannah Arendt, als sie 1959 den Lessing-Preis der Stadt Hamburg bekam. Ihre Worte über Ehrung und Urteil gehören zum Schönsten, was sie geschrieben hat, und sie führen ins Zentrum ihres Denkens. In der Hinsicht des Verdienstes, heißt es bei ihr, „erteilt uns die Ehrung ja eine sehr eindringliche Lektion in Bescheidenheit, indem sie uns einfach die Kompetenz abspricht, über uns selbst und unsere eigenen Verdienste so urteilen zu können, wie wir über die Verdienste und Leistungen anderer Menschen urteilen.“ Denn in der Ehrung melde sich die Welt zu Wort, „und wenn wir sie annehmen und für sie danken, so können wir es nur ohne alle Selbstreflexion im Rahmen unserer Haltung zur Welt, zu einer Welt und Öffentlichkeit nämlich, welcher wir den Raum verdanken, in den wir sprechen und in dem wir gehört werden.“

Endlich ehrt die Welt Hannah Arendt mit einer Kritischen Gesamtausgabe – projektiert auf 17 Bände, die bis 2030 bei Wallstein erscheinen sollen. Vom digitalen Versprechen der Ausgabe, die als Hybrid-Edition angelegt ist, muss man noch bis zum Ende des Jahres schweigen, wenn der Launch der Webseite ansteht. Dort werden die Varianten noch genauer nachvollziehbar sein. Die gedruckten Bände wollen die Herausgeber, trotz aller textkritischen Arbeit, als Lesetexte verstanden wissen. Das ist auch gut so, denn Arendt gab es bisher, anders als viele ihrer männlichen Philosophenkollegen, nicht in einer integralen Ausgabe.

Arendt suchte auch die öffentliche Auseinandersetzung

Zwei Bände, in schlichtem Blau mit schwarzer und weißer Schrift, liegen nun vor. Der erste, Band 6 im Gesamtplan, versammelt die Bruchstücke von einem Projekt aus den frühen 1950er Jahren, das am Ende so nicht fertiggestellt wurde, auch wenn manches davon in andere Werke einging: Die „Fragmente eines Buchs“ tragen jetzt die Herausforderung des Traditionsbruchs im Titel: „The Modern Challenge to Tradition“. Der ursprüngliche Arbeitstitel war: „Karl Marx and the Tradition of Political Thought“. Nach einem Marx-Jubiläumsjahr, das sich vielfach in biografischen Anekdoten zu verlieren drohte, erfreut der Band gerade im stillen Ernst seiner Fragmentierung, der trotzdem nicht für die Schublade gedacht war.

Arendt suchte die öffentliche Auseinandersetzung, nicht nur die akademische: Ihre Überlegungen zu „Ideologie und Terror“, mit denen der Band einsetzt, erschienen 1953 sowohl im „Rheinischen Merkur“ als auch in der „Review of Politics“. Der kurze und pointierte Beitrag „Von Hegel zu Marx“ wurde im gleichen Jahr vom RIAS gesendet. Ergänzt werden diese Stücke um Unbekanntes und Unpubliziertes. Die Anknüpfungs- und möglichen Revisionspunkte in der Deutung sind vielfältig – etwa zu Arendts „Vita Activa“ (im Original „The Human Condition“), einer kritischen Auseinandersetzung mit Marx’ Arbeits- und Politikverständnis.

Als das Buch 1958 in den USA erschien, war die McCarthy-Ära noch nicht lange vorüber, Anti-Marxismus in Mode. Marx werde kritisiert werden, leitet Arendt ihre Überlegungen ein. Das sei „unfortunate“ in einer Zeit, in der die professionellen Anti-Marxisten auskömmlich lebten, während Marx von seinen Ideen nicht leben konnte.

Schon der erste Band der Gesamtausgabe lässt erahnen, wie schwierig die Aufgabe ist, die sich das Editorenteam um Barbara Hahn gestellt hat. Dabei ist die Überlieferungslage vergleichsweise einfach. In der Library of Congress in Washington liegt das meiste Material, und zwar bereits digitalisiert. Schwieriger ist die Mehrsprachigkeit. Arendt schreibt auf Deutsch und auf Englisch, gleichzeitig werden Werke professionell übersetzt, wobei Arendt selbst manches Mal einbezogen war, die Übersetzung zum Anlass für Revisionen nahm. Die stärkste Herausforderung liegt in Arendts Trans- oder Interdisziplinarität. Entsprechend finden im Herausgeberteam Literaturwissenschaften, Geschichte, Philosophie, Politikwissenschaft zusammen. Macht das die Ausgabe zu einem unlesbaren, wissenschaftlichen Klotz? Bisher nicht! Die Bände liegen nicht nur gut in der Hand, sie lassen sich tatsächlich als Lesetexte benutzen. Der Kommentarteil ist knapp und pointiert (jeweils etwa ein Drittel), wenngleich nicht immer didaktisch hinführend. Das ist kein Manko, sondern macht die Ausgabe alterungsresistent. Schön ist, dass in den Verweisen, wenn möglich, aus Arendts eigener Bibliothek zitiert wird (mit zusätzlichen Hinweisen auf philologisch verlässlichere Editionen). Arendts Buchbestand wird vom Bard College gerade gescannt, so dass man auch hier auf Entdeckungsreise gehen kann. Schon jetzt wünscht man sich daher eine auf der Gesamtausgabe beruhende Taschenbuchedition – insbesondere für die verstreuten Essays.

Erläuterungen bringen die Leser auf die richtige Spur

Zum neuen Jahr erschien nun auch der Band 3 im Gesamtplan: „Sechs Essays“. Er versammelt die unter diesem Titel in den 1940er Jahren publizierten Texte, rekonstruiert ihre Entstehungs- und Publikationsgeschichte zwischen Amerika und Europa. Einige von Arendts umstrittensten Essays finden sich in diesem Band: „Die verborgene Tradition“ etwa oder „Was ist Existenzphilosophie“.

Arendts Porträt der existentialistischen Mode wurde 1946 für die linksintellektuelle „Partisan Review“ übersetzt – wohl eine „Auftragsarbeit“ im Sinne der transatlantischen Verständigung, wie es im Kommentar heißt, die Arendt in New York begann, als ihre Bibliothek sich noch in Paris befand. In die erste Auflage der „Sechs Essays“ wurde er 1948 noch aufgenommen, später jedoch nicht wieder publiziert. Die kleinen Differenzen zur amerikanischen Version – die gestrichene Fußnote zu Heidegger etwa – wären selbst einen Essay wert.

Die Erläuterungen im Kommentarteil bringen die Leser auf die richtige Spur: Angeführt werden die wichtigsten Stichworte, ebenso, was an Reaktionen überliefert ist. So werden Fährten gelegt, die man weiterverfolgen möchte, etwa zu Sidonie Kellerers gegenwärtigem Projekt „Heidegger und die Postmoderne“.

Antwort auf den Traditionsbruch

Hannah Arendt gehört zu den Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, die den Essay über aktuelle politische und literarische Themen zu ihrer Gattung machen. Die Wahl dieser Form lässt sich als Antwort auf den Traditionsbruch verstehen, mit dem auch Arendts Versuche über Marx ringen, wirft dieser doch die Frage auf, wie sich noch erzählen lässt, wenn an tradierte Muster nicht mehr unschuldig angeknüpft werden kann. Und doch ist die Lage komplexer, wenn Arendt mit dem Essay zugleich an eine aufklärerische Tradition anschließt, nicht zuletzt an diejenige Lessings, dem sie in der eingangs zitierten Preisrede ein ungewöhnliches, ein ungewöhnlich schönes Denkmal setzte: „Lessings Unruhe“.

So nannte Juliane Rebentisch das 2018 in ihrer Lessing-Preis-Rede: Lessing habe gefreut, resümiert sie treffend, was Philosophen traditionell bekümmerte – der Umstand, dass eine Wahrheit, sobald sie geäußert wird, sich in eine Meinung, genauer: in eine Meinung unter Meinungen, verwandle. Wenn Arendt „die Größe Lessings“ in seiner Freude darüber sieht, dass deshalb das Gespräch nicht aufhören könne, verrät das viel über sie selbst.

Dass Hannah Arendt wieder auf die Agenda gerückt ist, liegt nicht nur daran, dass in den USA wie in Europa Demokratie und Grundrechte erneut in Frage gestellt werden, dass wir wieder verstärkt über Wahrheit in der Politik oder über den Umgang mit Flüchtlingen diskutieren. Ihr Verdienst liegt, weit über streitbare Einzelpositionen hinaus, in ihrer weltzugewandten, aufklärerischen, urteilsstarken Haltung.

Hannah Arendt: The Modern Challenge to Tradition. Fragmente eines Buchs. Herausgegeben von Barbara Hahn und James McFarland unter Mitarbeit von Ingo Kieslich und Ingeborg Nordmann. 924 Seiten, 49 €.

Hannah Arendt: Sechs Essays. Die verborgene Tradition. Herausgegeben von Barbara Hahn unter Mitarbeit von Barbara Breysach und Christian Pischel. 503 Seiten, 39 €. Beide erschienen im Wallstein Verlag, Göttingen.

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Hendrikje Schauer

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