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Ein verunfallter Zug auf der Bahnstrecke zwischen dem polnischen Stettin (Szczecin) und Tantow in Brandenburg. In Gert Loschütz' Roman "Besichtigung eines Unglücks" geht es um das schlimmste Zugunglück in Deutschland,bei dem am 22. Dezember 1939 mindestens 186 Menschen ums Leben kamen.

© dpa

Gert Loschütz' Roman „Besichtigung eines Unglücks“: Wem die Zeit gehört

Verbundenheit mit den Toten: Gert Loschütz erzählt in seinem neuen, sehr guten Roman vom schwersten Zugunglück in Deutschland. Es ereignete sich 1939.

Es ist die Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1939, als sich im sachsen-anhaltinischen Genthin das bis heute schwerste Zugunglück in Deutschland zuträgt.

Ein D-Zug, der aus Berlin kommt und mit Reisenden bis auf den letzten Platz und auch in den Gängen besetzt ist, fährt mit höchster Geschwindigkeit auf einen anderen Personenzug, der kurz vor dem Bahnhof von Genthin steht.

Mindestens 186 Menschen kommen bei dem Unfall und die Tage danach ums Leben, vielleicht sind es sogar mehr. Noch viel mehr werden verletzt, zum Teil schwer.

Wie es zu dieser Katastrophe in der eiskalten Winternacht kommen konnte, das recherchiert in Gert Loschütz’  neuem Roman „Besichtigung eines Unglücks“

(Schöffling Verlag, Frankfurt/Main. 334 Seiten, 24 €.) der Berliner Reise- und Kulturjournalist Vandersee, nachdem er einen Hinweis auf das in Vergessenheit geratene Ereignis bekommen hat.

Aber auch aus persönlichen Gründen: Vandersee stammt aus Genthin, so wie seine Mutter Lisa, die hier aufgewachsen ist, 1939 selbst noch ein junges Mädchen war und mit ihm in den fünfziger Jahren nach West-Berlin ging: „Als ich ein Bild davon bekam, wie sich die Sache zugetragen hatte“, erzählt er, „sah ich das Haus vor mir, in dem das Mädchen, das Lisa damals war, mit ihrer Mutter lebte, und nahm an, dass sie ebenfalls wach geworden ist.“

Loschütz mischt Fakten und Fiktion

Vandersee schaut sich Zeugenaussagen und Polizeiprotokolle an, versucht ein vollständiges Bild von dem Unglück zu bekommen, forscht den Ermittlungen nach und der der Schuldfrage unter den unmittelbar Beteiligten, den Lokführern, Kohleschauflern, Schrankenwärtern und Dispatchern.

Gert Loschütz mischt hier geschickt die Fakten dieser Zugkatastrophe mit fiktiven Figuren. Zwei von diesen Figuren, die neben dem Bahnpersonal Vandersees Interesse wecken, haben in einem der Züge gesessen: der Italiener Giuseppe Buonomo, der ums Leben kommt.

Und eine gewisse Carla Finck, die mit Buonomo zusammengereist ist, warum auch immer, überlebt hat und in Genthin kurz im Krankenhaus liegt. Von ihr erfährt man, dass sie mit dem in Neuss lebenden Juden Richard Kuiper liiert ist.

Mit dem zweiten von drei großen Kapiteln, das Carla und Richard gewidmet ist, verlässt Loschütz den Schauplatz des Zugunglücks, die Stadt, in der er selbst 1946 geboren wurde. 

Es beginnt eine Spurensuche, die nach Neuss und nach Berlin führt. Und die, wie es häufig scheint, mit der Katastrophe in Genthin gar nichts zu tun hat, letzten Endes sich aber ihr verdankt, bis hin zu dem Umstand, dass Vandersees Mutter Lisa Carla Finck im Krankenhaus ihrer Heimatstadt getroffen und ihr geholfen haben muss.

Man kennt diese Art des viele Umwege machenden und dabei oft unmerklich die Zeitebenen wechselnden Erzählens aus anderen Romanen des hierzulande leider immer noch zu wenig beachteten, unterschätzten Schriftstellers Gert Loschütz.

Berlin in den 50ern und frühen 60ern

Er erzählt hier nicht nur von dem Zugunglück, wie es der Titel suggeriert. Sondern widmet sich einerseits jüdischen Schicksalen, was vor dem zeithistorischen Hintergrund, mit dem das Zugunglück nur infrastrukturell zu tun hat, geradezu folgerichtig ist: nämlich denen von Richard und Carla.

Anderseits bettet Loschütz abermals eine Geschichte in diesen Roman, die auch in dem wunderbaren, 2018 erschienenen Vorgängerbuch „Das schöne Paar“ Dreh- und Angelpunkt ist und die Loschütz bereits in seinem autobiografisch grundierten, kurz nach der Wende veröffentlichten Roman „Flucht“ erzählt hat: die von dem Weggang eines kleinen Jungen mit seiner Mutter von Ost- nach Westdeutschland. Der Autor siedelte übrigens selbst 1957 mit seinen Eltern ins hessische Dillenburg über.

Tatsächlich ist der dritte große, mit „Das Violinenfräulein“ übertitelte Abschnitt von „Besichtigung eines Unglücks“ ein reines Berliner Kapitel. Angesiedelt in der Gegend um die Potsdamer Straße, in der Pohl-, Dennewitz–, und Kurfürstenstraße, fängt dieses Kapitel die Nachkriegsatmosphäre der späten fünfziger- und frühen sechziger Jahre, die Stimmung von Aufbau und Vergessen sehr gut ein.

Vandersee erzählt darin von dem Werdegang seiner Mutter, ihrer Liebe zu einem Musiker, der in die USA geht, von ihren verpassten Chancen, und auch von seinem Vater, der gar nicht im Krieg gefallen, sondern sein Adoptivonkel ist. Und Vandersee spürt hartnäckig und betroffen den Zufällen der Leben in seiner eigenen Familie nach, aber auch denen von insbesondere Carla, Richard und Guiseppe nach, den plötzlichen Abzweigungen und Schicksalsschlägen dieser Leben.

Eindringliche Bilder und Szenen

Gert Loschütz schreibt eine unaufdringliche, mitunter poetische, mitunter spröde, bisweilen an Uwe Johnson erinnernde Prosa. Er geht sparsam mit den Worten um, ohne zu verhehlen, Schönes erschaffen zu wollen. Dabei stört es kaum, dass der erste Teil dieses Romans auf einem Hörspiel basiert, das Gert Loschütz 2001 produziert hat.

Immer wieder schafft er eindringliche Bilder und Szenen, in Genthin, in Neuss oder im Nachkriegsberlin mit den hier überall noch herumstehenden Ruinen: „Wenn ich ins Wohnzimmer trat, sah ich manchmal, wie sich meine Mutter aus dem Fenster beugte und zum Trümmerfeld hinübersah, zu den Stelzen der Hochbahn und den in kurzen Abständen darüber kriechenden Zügen, die vom Gleisdreieck kommend, im nächsten Moment in den Schacht zwischen den Häusern eintauchen würden.“

Es ist eine weitere Kunst von Loschütz, dass er seine Erzählfäden schön fest beieinander zu halten versteht; er manchmal gar Spannung erzeugt, weil man wissen will, wie alles miteinander zusammenhängt. Und wie nebenher, aber auch um seine Geschichte in Gang zu bringen, zieht er noch einen Handlungsstrang auf der Gegenwartsebene ein.

Vandersee führt nämlich eine recht ungewöhnliche Beziehung zu einer verheirateten Frau, die er nur Yps nennt, wie Y oder Ypsilon. Sie ist es, die ihm zu Beginn eine Art Refrain ins Ohr flüstert: „Nicht deine Zeit.“

An das Ende hat Loschütz zwei kurze, lose, eher fragmentarische Kapitel gestellt. Sie deuten an, dass sich die Vergangenheit nie zu einem stimmigen, vollständigen Bild rekonstruieren lässt. Doch lösen sie auch manches Rätsel. Seine Zeit hat Vandersee sich einfach genommen – und die Erkenntnis gewonnen, dass mit dem zeitlichen Abstand die Verbundenheit mit den Toten eher zu- als abnimmt. Und wer will da schon noch beurteilen, wem die Zeit gehört.

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