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Diskriminierung? In Knabenchören wie dem Leipziger Thomanerchor dürfen traditionell keine Mädchen mitsingen.

© Jan Woitas /dpa /picture-alliance

Gerichtsurteil zu Knabenchören: Lasst die Mädchen singen!

Mädchen dürfen nicht in Knabenchören singen. Dabei haben unterschiedliche Klangfarben vor allem mit der Intensität der Ausbildung zu tun. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Paul Gäbler

„Sind Mädchenstimmen in einen Knabenchor integrierbar?“, fragte der Vorsitzende Richter am Freitag. „Ja“, antwortet Kai-Uwe Jirka. „Aber nur mit Gewalt.“

Seit 2001 leitet Jirka den Berliner Knabenchor, der an die Universität der Künste angegliedert ist. Nun wäre er fast der erste Dirigent geworden, der neben Knaben auch Mädchen anleitet. Das Gericht hat anders entschieden.

Felix Mendelssohn-Bartholdy, Hugo Distler oder Christian Grube machten den einstigen königlichen Hof- und Domchor in den vergangenen Jahrhunderten zu einer international bekannten Institution. Bereits im 15. Jahrhundert waren für die Dhumkerke fünf Sängerknaben engagiert worden. Knaben – Frauen waren auf der Kanzel nicht erwünscht und sind in der katholischen Kirche bis heute vom Priesteramt ausgeschlossen. Die musikalische Darbietung musste also stets ebenfalls von Männern übernommen werden.

Wieso soll ein Mädchen nicht mit Jungs singen dürfen?

Der Kampf der Frauen um Identität und Anerkennung greift auf die klassische Musik über und stellt die historisch gewachsenen Fundamente infrage. Wieso soll ein Mädchen nicht mit Jungs singen dürfen? Ist es lediglich aufgrund des Geschlechts legitim, Mädchen den Beitritt zu verweigern? Und wie stichhaltig ist das Argument, ein Knabenchor habe nun mal eine ganz besondere Klangfarbe?

In der klassischen Chorliteratur finden sich viele Werke, die explizit für Knabenchor geschrieben sind. Und auch wenn es inzwischen bekannte gemischte oder reine Mädchenchöre gibt, so ist die Elite der Kinderchöre bis heute ausschließlich den Jungs vorbehalten. Der Dresdner Kreuzchor, der Leipziger Thomanerchor, die Regensburger Domspatzen und auch der Staats- und Domchor gehören zu den prominentesten Vertretern ihrer Gattung. Sind Knaben also die besseren Sänger?

Nein. In den meisten Laienchören sind bis heute überdurchschnittlich viele Mädchen vertreten. Alle Chöre hatten wiederholt Probleme mit der Nachwuchsrekrutierung. Schon 2002 dachte man beim Thomanerchor darüber nach, Mädchen aufzunehmen. Und schaut man sich die Literatur zur Chorpädagogik aus dem 19. Jahrhundert an, stellen sich einem die gender-sensibilisierten Nackenhaare auf. Die Klangfarbe von Jungs wird mit Attributen wie „keusch“, „stark“ und „platonisch“ beschrieben, sie klingen wie „verklärt und nicht von dieser Welt“. Eben wie Engel.

Mit der Pubertät verlieren die Sänger ihre himmlischen Höhen

Die Mädchenstimmen wiederum bekommen Attribute wie „verhaucht“ und „flach“ zugedacht. Auch wenn sich bis heute die Behauptung, Knabenchöre hätten einen ganz besonderen Klang, hartnäckig bei Klassik-Begeisterten hält, so gibt es dafür keinen eindeutigen wissenschaftlichen Beleg. Vielmehr scheint es, als würde sich die unterschiedliche Klangfarbe vorwiegend auf die Intensität der Ausbildung zurückführen lassen. Diese beginnt bei Jungs meist früher als bei Mädchen – schon weil sich mit der Pubertät der Stimmbruch einstellt und die Sänger ihre himmlische Höhe verlieren. Vergleicht man also Mädchen- mit Knabenchören, so vergleicht man früh geförderte Profis mit sanft herangeführten Laien.

Im Fußball sind die anatomischen Unterschiede zu offensichtlich für einen Wettkampf auf Augenhöhe. Bei Mädchen- und Knabenchören sind die Unterschiede indes trivial. Ausgewiesene Kenner oder Chorleiter hören wohl den Unterschied in den Obertonklängen. Der durchschnittliche Konzertbesucher eher nicht.

Es ist an der Zeit, sich umzugewöhnen

Wissenschaftlichen Studien zufolge sind Mädchen außerdem tendenziell musikalischer, was auch daran liegen mag, dass Singen unter Jungs eher verpönt ist. Vermutlich fällt es ihnen unter ihresgleichen leichter, dieser Leidenschaft nachzugehen. Dies könnte das einzige Argument sein, Knabenchöre aufrechtzuerhalten.

Das Gericht hat eine formal-juristische Entscheidung getroffen: Knabenchöre bleiben Knabenchöre. Ihre interne Logik hätte ein anders Urteil ohnehin nicht auf einen Schlag verändert. Gewachsen auf historischen Fundamenten, die mindestens als schwierig zu bezeichnen sind, müssen sich die Knabenchöre dennoch fragen, ob ihre Argumente noch stichhaltig sind. Zumindest optisch würden Mädchen im Ensemble auffallen. Doch wer meint, singende Jungs rührten den Zuschauer mehr als singende Mädchen, der sollte anfangen, sich umzugewöhnen.

(Der Autor sang von seinem neunten Lebensjahr bis zu seinem Stimmbruch ebenfalls im Staats- und Domchor Berlin.)

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