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George Taboris die „Kannibalen“: Als Auschwitz erstmals auf die Berliner Theaterbühne kam

Ein Abend in West-Berlin, vor 50 Jahren. George Tabori bringt das erste fiktionale Holocaust-Stück auf die Bühne - trotz Protesten. Eine Erinnerung.


Die Autorin, geboren 1922 in Berlin, leitet seit den fünfziger Jahren den Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb. Zu ihren Autoren gehören George Tabori, Ferdinand von Schirach, Ödön von Horváth, H. M. Enzensberger u. v. a.

„Wenn Sie lachen wollen, Sie dumme Gans, dann sehen Sie sich doch ,Charley’s Tante‘ an“, wies an diesem Premierenabend des 13. Dezember 1969 in der Werkstatt des Schiller-Theaters in West-Berlin ein aufgewühlter Theaterbesucher eine junge Zuschauerin zurecht, die vom Angebot des Stücks und der Inszenierung Gebrauch gemacht hatte, beim Ansehen des Schlimmsten mitunter eine schaurige Komik zu entdecken.

Auschwitz zum ersten Mal fiktional im Theater. Häftlinge, die, vom Leib und Seele zerfressenden Hunger getrieben, besinnungslos einen der Ihren erschlagen, eines heimlich (aber knirschend) verzehrten Stückes Brot wegen, und sich schließlich daranmachen, aus seinen Überresten eine Suppe zu kochen.

Wie kann man das auf eine Bühne bringen, in Deutschland zumal, 25 Jahre nach Kriegsende, mit so manchen Verantwortlichen von einst in so manchen verantwortungsreichen Positionen von jetzt?

Die Jüdische Gemeinde hatte gegen die geplante Aufführung dieser „Kannibalen“ protestiert. Intendant Boleslaw Barlog hatte sich an seine Einladung des in Ungarn geborenen, in Amerika lebenden Autors George Tabori und des Regisseurs der vorjährigen New Yorker Uraufführung Martin Fried gehalten und ein hochkarätiges Ensemble sensibler Schauspieler zur Verfügung gestellt, mit dem unvergleichlichen Michael Degen, der als Protagonist eine Rolle zu spielen hatte, die Taboris Vater angeglichen war.

Dieser Cornelius Tabori, ein Budapester Publizist, war vor 25 Jahren in Auschwitz umgekommen, „gestorben in unantastbarer Würde“, wie George Tabori schreibt, und er, George, sei „nicht zur Ruhe gekommen, bis dieses Stück geschrieben war, eine Schwarze Messe … Es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht ewig an ihnen würgen sollen“.

Das Stück legt den Grundstein für Taboris Karriere

Und er gelingt, dieser Abend voller Grauen, voller Komik. Eine Geschichte, berichtet von den Nachfahren jener zwei Überlebenden, die, auf Befehl des hinzugekommenen Aufsehers, des „Engels des Todes“, als Einzige von der Suppe gegessen haben, während alle anderen sich weigerten und also abgingen „in den Duschraum“.

Der Abend, der nach Friedrich Lufts „Stimme der Kritik“ „dauernd zu bedrücken und unerträglich zu sein scheint, am Ende doch klärt und befreit, dessen Kraft und Schönheit ans Herz geht“, der für den großen Altmeister der Kritik, Herbert Ihering, „zum Welttheater gehört, zu den besten Inszenierungen, die ich in meinem Leben gesehen habe“, wird für George Tabori, der aus New York nach Europa zurückkehrt, zum Beginn einer lebenslangen Karriere als Dramatiker und Regisseur.

Der junge Intendant Peter Stoltzenberg holt ihn nach Bremen und lässt ihn mit Schauspielern, die von allen anderen Verpflichtungen befreit sind, an einem „Labor“ arbeiten. Später holen ihn Claus Peymann und Hermann Beil nach Bochum, Wien und Berlin.

Es entstehen viele Stücke, die ins Repertoire des deutschsprachigen Theaters eingehen, darunter „Jubiläum“, „Mein Kampf“, „Goldberg-Variationen“. Und noch heute, zwölf Jahre nach dem Tod des damals 93-Jährigen, der ein Ehrengrab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof gefunden hat, gibt es fast jeden Monat eine Premiere im europäischen Theater und – was ihn freuen würde – in vielen freien Gruppen. Begonnen hat das alles hier, heute vor fünfzig Jahren.

Maria Sommer

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