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Landschaft und Leidenschaft. Hier empfängt Franziskus die Wundmale.

© Abbildung: Philadelphia Museum of Art, John G. Johnson Collection

Gent feiert Jan van Eyck: Ein europäisches Wunder

Eine Ausstellung ehrt den ersten Maler der Neuzeit – und Schöpfer des berühmten Altars. Das Ensemble überstand über die Jahrhunderte alle Attacken.

So nah kommt man nie mehr heran. Im Museum der Schönen Künste Gent sind die Außentafeln des Genter Altars ausgestellt und zwei Innenteile, Adam und Eva. Es sind die ersten lebensgroßen Aktdarstellungen der europäischen Malerei, anno 1432. Gent feiert ein ganzes Jahr lang den Maler Jan van Eyck, der auch die frühesten individuellen Bürgerportraits schuf. Sechs Jahrhunderte Zeitunterschied werden spielend überbrückt. Adam und Eva, noch vor dem „Sündenfall“, hat der flämische Künstler mit einem Ausdruck versehen, der an postkoitale Melancholie erinnert, und das Bildnis des Goldschmieds Jan de Leeuw strahlt modernes Selbstbewusstsein aus.

Dreizehn der 23 weltweit existierenden Werke van Eycks versammeln sich in der Schau mit dem hochfahrenden Titel „Jan van Eyck – Eine optische Revolution“. Natürlich fällt sogleich auf, was fehlt. Die dämonische Arnolfini-Hochzeit und der Turban-Mann (ein mögliches Selbstporträt) aus der National Gallery London, der Dresdner Marienaltar und die Berliner Madonna in der Kirche haben den Weg zurück nach Flandern nicht gefunden, auch nicht die Rolin-Madonna aus Paris. Es liegt am Zustand der Werke, aber auch an der Versicherungsproblematik. Dennoch, man wird jetzt nicht nach Belgien reisen können, ohne ins Schwärmen zu geraten.

Zu bestaunen ist ein europäisches Wunder. Denn der Genter Altar, derzeit zwischen dem Museum und der St.-Bavo-Kathedrale verteilt, wo er im Herbst in einem neuen Besucherzentrum wieder zusammengeführt wird, sollte sich eigentlich nicht mehr in Gent befinden und vielleicht auch gar nicht mehr auf dieser Welt, die er um Gottes Lamm herum fast aufreizend transzendiert.

Die Monuments Men der US-Army bargen die unersetzlichen Tafeln

So oft wurde das 3,5 mal 4,5 Meter große, aufklappbare Ensemble attackiert und praktisch zum Tode verurteilt. Im 16. Jahrhundert versteckten Genter Bürger den Altar vor calvinistischen Bilderstürmern. Napoleons Truppen verschleppten die Hauptstücke nach Paris, andere Teile gerieten in den Kunsthandel und auf diesem Weg 1830 in die preußischen Sammlungen; in Berlin wurde eine Tafel in zwei Teile zersägt, um beide Seiten leichter ausstellen zu können. Wiedervereint nach dem Ersten Weltkrieg, geriet der Altar ins Visier der Nazis und landete bei Kriegsende in einem Salzbergwerk in Österreich, das nur knapp der Sprengung entging. Die Monuments Men der US-Army (im Film war es George Clooney) bargen die unersetzlichen Tafeln. Sie sind erhalten bis auf das Bild der „Gerechten Richter“, das 1934 gestohlen und nie wieder gefunden wurde. Dem Altar blieb wenig erspart, er scheint aber auch unter einem speziellen Schutz zu stehen.

Keinem anderen Kunstwerk ist mehr europäische Geschichte eingeschrieben. Selbst in Friedenszeiten weckten der Glanz und die Raffiniertheit des Genter Altars die Begehrlichkeit der spanischen und britischen Herrscher, Kopien brachten nichts. Es ist keine kleine Koinzidenz, dass vor den Toren von Europas Hauptstadt Brüssel eine Van-Eyck-Ausstellung eröffnet, während Großbritannien unter schalen Freudengesängen und heißen Tränen die EU verlässt. Gent und van Eyck, das stiftet Gemeinschaft, so sehr ist der Mythos des Altars, den Jan mit seinem früh verstorbenen Bruder Hubert schuf, ein europäischer. Er verkörpert christliche Kultur und zivile Urbanität.

Der Goldschmied. Porträt des Jan de Leeuw.
Der Goldschmied. Porträt des Jan de Leeuw.

© Abbildung: Kunsthistorisches Museum Wien

Über Hubert weiß man weiter nichts. Jan aber hat die Malerei derart beeinflusst, dass tatsächlich von einer Revolution gesprochen werden kann – noch vor der Renaissance, die sich im Allgemeinen mit Italien verbindet. Van Eycks Kunst war im 15. Jahrhundert auch im Süden bekannt, vor allem in Neapel. Jan van Eyck (1390–1441) stand als Hofmaler in Diensten Philipps des Guten, des Herzogs von Burgund. Gent und Brügge waren reiche Handelsstädte, und Burgund, in Kerneuropa, einer der prächtigsten Höfe mit Verbindungen überallhin, wo heute EU-Land ist. Van Eyck reiste in diplomatischer Mission auf die Iberische Halbinsel, er war ein gebildeter Mann und schon zu Lebzeiten eine Berühmtheit.

Die Verbindung von Realismus und Spiritualität frappiert bis heute

Die Ölmalerei hat er nicht erfunden, wie es die Legende will, aber entscheidend weiterentwickelt. Ölfarben erzielen ein anderes Leuchten als Tempera, und van Eyck soll chemische Mittel gefunden haben, die das Öl schneller trocknen ließen. Er studierte optische Wissenschaften und besaß eine ungewöhnlich scharfe Beobachtungsgabe. Daraus ergibt sich die nie zuvor gesehene und bis heute so frappierende Verbindung von Realismus und Spiritualität. Wer will, kann in der menschlichen Darstellung bis ins kleinste Bart- und Schamhaar die Überwindung des religiösen Zwanges sehen – oder den luziden Blick auf Gottes Schöpfung.

Joos Vijd, der kniende Stifter des Genter Altars, hat Warzen im Gesicht, Blutgefäße zeichnen sich auf dem kahlen Schädel ab. Auf dem Bild des Heiligen Franziskus mit den Stigmata in der Felslandschaft fällt das ergriffene, aber auch alltägliche Gesicht auf, die struppige Frisur. Das schmälert den Glauben nicht, weist aber darauf hin, dass es Menschen waren, die sich die Religion erschufen und die Bilder der Verehrung und Belehrung dazu.

Die Außenseite des Altars. Die Tafeln wurden restauriert und sind nun im Museum in der Ausstellung zu sehen.
Die Außenseite des Altars. Die Tafeln wurden restauriert und sind nun im Museum in der Ausstellung zu sehen.

© Abbildung: www.lukasweb.be - Art in Flanders vzw

Bei van Eyck erscheinen Mann und Frau bereits als Wesen der Renaissance; zweifelnd, von Emotionen bewegt, versunken in Gedanken, ein jeder einzigartig und im Grund für sich selbst verantwortlich. Zum ersten Mal sitzen die Subjekte nicht mehr im Profil, sondern in einer Dreiviertel-Haltung, dem Betrachter zugewandt. Später wird das zum Standard. Um 1440 aber ist es ein neues Bildprogramm, an das sich Jans Zeitgenossen wohl schnell gewöhnt haben. Es gab kein Zurück mehr ins Mittelalter in der Darstellung des Menschen.

Vergleicht man van Eyck mit Fra Angelico, der zur gleichen Zeit malte, emanzipiert sich bei dem Flamen auch die Natur von der schematisch-abstrakten Darstellung. Doch da ist die Ausstellung unfair. Die beigestellten italienischen Bilder fallen zu stark ab. Hätten sich die Kuratoren zum Beispiel um einen Antonello da Messina bemüht, ein wenig jünger als van Eyck, würde der Vergleich anders ausfallen, sie wären auf Augenhöhe.

Das Original war eine halbe Ewigkeit verborgen unter Übermalungen

Bei van Eyck ist ein Baum ein Baum, Wasser ist Wasser, und neben Franziskus sind die Gesteinsschichten geologisch genau festgehalten, sensationell. Wiederum fällt auf das Lamm Gottes auf dem Mittelstück des Altars ein überirdisches Licht, dank van Eycks revolutionärer Maltechnik. Das Original war eine halbe Ewigkeit verborgen unter Übermalungen. Sie haben dem Altar mehr geschadet als alles andere. Siebzig Prozent der ursprünglichen Malerei waren vom Reparatureifer früherer Jahrhunderte betroffen, es gab Beschädigungen durch das Öffnen und Schließen der Altarflügel, Einwirkung durch das Klima, Kerzen in der Kirche.

Wundersamerweise fehlen aber effektiv nur fünf Prozent dessen, was Jan und auch Hubert van Eyck gemalt haben. 2012 begann die Restaurierung in einem Raum des Museums voor Schone Kunsten in Gent. Die Restauratoren wussten nicht, worauf sie sich einließen. Sie hatten Glück. Durch mehrere Firnisschichten ließ sich die Übermalung gut abtragen. Und dabei wurde das „Lam Gods“ spektakulär wiederbelebt. Ein winziger schneeweißer Fleck in dem prallgefüllten, dennoch nicht hektisch oder vollgestopft wirkenden Ensemble, blickt es den Betrachter auch aus einiger Entfernung und hinter dickem Glas in der Kirche nun unvermittelt an, das geht tief hinein.

Das Lamm Gottes hat nach der Restaurierung wieder die hypnotisierenden Augen, aus denen eine Menschenseele spricht (zeitweise hatte es durch Ergänzung und Übermalung vier Ohren). Aus seiner Brust fließt im festen Strahl das Blut in die Goldschale. Christus wird geopfert, in Gestalt des unschuldigen Tiers. Die Szenerie besitzt bei aller Eleganz etwas Heidnisches. Und auch wieder eine entrückte Künstlichkeit – als sei dies alles eine mächtige Inszenierung.

Neben der Kathedrale liegt das Genter Stadttheater NT. Intendant Milo Rau hat dort das „Lamm Gottes“ mit Genter Bürgern und ihren Geschichten nach- und neuinszeniert. Auch das hat Tradition. Im 15 .Jahrhundert wurde der Altar durchaus als Tableau vivant verstanden. Das erklärt auch noch einmal die Bedeutung des Genter Altars als Bürgerstolz und Identität stiftendes Kunstwerk über den religiösen Gehalt hinaus.

Jede Falte, jede Furche ist in den Gesichtern zu sehen

Die Ausstellung gruppiert sich im Museum um die Altarteile herum, um die Verkündigung, Johannes den Täufer, das Stifterpaar. Allein schon Raum 12 (von 13 insgesamt) lohnt den Weg nach Gent. Hier sind die Porträts versammelt: der Goldschmied, van Eycks Frau Margarete, der Mann mit dem blauen Kopftuch aus dem Museum Sibiu in Rumänien, das „Leal Souvenir“ eines jungen Mannes aus London und aus der Berliner Gemäldegalerie, auch frisch restauriert, der Herr Baudouin de Lannoy, schmallippig-ernst, vielleicht nicht ganz gesund. Da sieht man, was ein Hautmaler ist, wie eine Falte, eine Furche das Gesicht zeichnet. Eine unglaublich dichte Atmosphäre herrscht in dem Raum, als redeten diese Menschen miteinander in einer Sprache, die sich nur ins Bild übersetzen lässt.

Oh My God: Überall in der Stadt gibt es van Eyck-Gimmicks

Was sie bewegte, bewegt uns heute noch. Der Mann mit dem blauen Tuch hält einen Ring zwischen den Fingern. Ist er verlobt, will er heiraten, etwas kaufen? Schaut er skeptisch oder müde, was wird das Leben für ihn bringen, das es dem Alten auf der Altartafel schon gebracht hat?

[Der Besuch der Ausstellung wurde von Visit Flanders unterstützt.– „Van Eyck – Eine optische Revolution“. Museum voor Schone Kunsten Gent. Bis 30. April 2020. Katalog mit 500 Seiten und 370 Abbildungen (deutsch) im Belser Verlag, 64,50 Euro. Allgemeine Infos: vaneyck2020.be.– Im Verlag Bernd Detsch erscheint „Van Eyck – Meisterwerke im Detail“. 256 Seiten, 160 Abbildungen 29,95 Euro.]

Sie treten an uns heran und sind in der Stadt überall. „OMG! Van Eyck Was Here!“ schreit es von den Wänden. Oh My God: Im Hotelaufzug die Verkündigung, auf dem „Do not disturb“-Schild im Zimmer das Antlitz des frommen Altarstifters. Van-Eyck-Bier und -Schokolade, Stoffe, eine Van-Eyck-Multimedia-Show, Kochrezepte, Kinderbücher, Musik (Arvo Pärt komponiert ein Stück für Gent), van Eycks Farben, Van-Eyck-Touren: Sie nehmen ihn und seine stillen Bilder aus wie eine Weihnachtsgans. Und doch hat es Charme, das Gekrähe. Man muss sich darum nicht kümmern und versuchen, eine halbwegs ruhige Stunde im Museum zu finden. So alt und so jung kommt man nie wieder zusammen.

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