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Konfrontation. Demonstrierende und Polizei liefern sich Straßenschlachten wie hier im nordfranzösischen Caen.

© AFP

Soziale Unruhen in Frankreich: Wie sich die Gelbwesten verändern - und Geschichte schreiben

Nach dem verarmenden Mittelstand trifft die Systemkrise nun die Bauern. Und die Proteste wecken das Interesse von französischen Autoren und Filmemachern.

In der französischen Provinz erlebt ein Film seit sieben Wochen eine unvergleichlichen Erfolgsgeschichte: „Au Nom de la Terre“ von Édouard Bergeon erzählt von einem Bauern, der unter der Last seiner Schulden zusammenbricht, in Depressionen verfällt und sich schließlich umbringt. Der Regisseur, selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen, verarbeitet hier die Erfahrung des väterlichen Suizids im ländlich geprägten Poitou.

Mehr als 1,7 Millionen Menschen haben den Film bereits gesehen, wobei ein Umstand besonders auffällt: Er ist ein Blockbuster in kleinen Städten und Gemeinden und ein Flop in Paris. Von den Medien der Metropole weitgehend ignoriert oder, wie in der Kritikerrunde von Staatssender France Inter geradezu bespöttelt, spricht er den Menschen aus der Provinz aus dem Herzen. Eins zu drei ist das statistische Verhältnis der Kinobesuche zwischen Paris und Provinz normalerweise, hier ist es eins zu 17.

Ist den Menschen in Paris das ergreifende Schicksal des Bauern, der sich zunächst voller Hoffnung in die Industrialisierung und Verschuldung stürzte, um dann am Agrarsystem zu scheitern, zu einfach gestrickt? Leiden die Leute auf dem Land unter mangelndem Filmgeschmack?

Oder zeigt sich hier nun ganz anschaulich das Auseinanderdriften von Zentrum und Peripherie, die Unkenntnis und das Desinteresse der Eliten in Politik, Kultur und Medien der Metropole gegenüber der Not auf dem Land, wo sich alle zwei Tage eine Bauer umbringt?

An den Gelbwestenprotesten waren die Bauern bisher nicht beteiligt

Ein Jahr nach Beginn der Gelbwestenproteste am 17. November 2018 ist dieser Film zur Chiffre für eine Systemkrise geworden, die nach dem verarmenden Mittelstand der Randbezirke und ländlichen Gebiete nun das Herzen des einstigen Agrarlandes trifft: seine Bauernschaft, die im Oktober mit Blockaden auf ihre Malaise Aufmerksam machte.

Ob die Bauern sich den Gelbwesten anschließen werden, ist noch unklar: Auf den Kreisverkehren, auf denen vor einem Jahr der Gelbwestenprotest begann, waren sie, wohl auch aus Mangel an Zeit, jedenfalls bislang nicht präsent.

Im Verlauf des Jahres ist die Mobilisierung an den Kreisverkehren und bei den Samstagsdemonstrationen der Gilets Jaunes kontinuierlich geschwunden. Zugleich haben sich Delegationen der verschiedenen regionalen Gelbwestengruppen bislang zu vier Vollversammlungen getroffen und ihre Strategien diskutiert.

Die dritte, vom Sommer des Jahres, war in Bezug auf die Systemfrage aufschlussreich: Eine revolutionäre Bewegung müsse man werden, die den Kapitalismus hinter sich lassen wolle.

Neuorientierung bei den Gelbwesten

Monate zuvor wären solche Diskussionen undenkbar gewesen. In Zeiten von „Fridays for Future“ und der Debatte um die Klimakatastrophe wollen viele Gelbwesten den Anlass für die Gründung ihrer Bewegung hinter sich lassen: den Protest gegen die Erhöhung der Kraftstoffsteuer.

Dennoch, wer in der französischen Provinz unterwegs ist, sieht immer noch viele gelbe Warnwesten auf dem Armaturenbrett, als Zeichen der Solidarität aus den ersten Tagen der Gelbwestenbewegung. Das ist ein Hinweis darauf, dass es hier ursprünglich um eine Autofahrerbewegung ging. Andere Teile der Protestbewegung konzentrieren sich auf die im kommenden Frühjahr anstehenden Kommunalwahlen und gründen eigene Wahllisten.

Eine politische Orientierungshilfe könnte den Gilets Jaunes ein vor wenigen Tagen erschienenes Buch des Parlamentsabgeordneten François Ruffin bieten. Der wird in den Medien als Robin Hood der Unterschicht gehandelt und ist regelmäßig an gesellschaftlichen Krisenherden unterwegs. Der Journalist und Politiker ist neben dem krisengeschüttelten Jean-Louis Mélenchon Führungsfigur der linken „La France Insoumise“.

Im Frühjahr hatte Ruffin als Erster einen Dokumentarfilm über die Gelbwesten in die Kinos gebracht. „J’veux du Soleil“ ist ein Roadmovie mit einer Autofahrt vom französischen Norden in den Süden, mit zahlreichen Stopps an den Kreisverkehren und Gesprächen mit den Gelbwesten.

Der Traum einer rot-grünen Volksfront

Jetzt träumt Ruffin in seinem Essay „Il est où, le Bonheur“ von einer rot-grünen Volksfront, die hoffnungsvoll eine Zeit der Lähmung überwinden soll.

„Weniger konsumieren, besser verteilen“ ist das Motto: „Die Ökologie verlangt zunächst einmal nach einer Revolution der politischen, sozialen, aber auch persönlichen Vorstellungswelten“, schreibt Ruffin und betont, dass das Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte nicht zu mehr Glücksempfindung geführt habe.

Ruffin geht es letztlich darum, den als schmerzlich empfundenen Zwang zum Abschied vom ökologisch nicht mehr vertretbaren, konsumorientierten Wohlstandsmodell zum Glücksversprechen umzudeuten. Ruffin, der zwei Jahre älter ist als Frankreichs Präsident, gibt sich gerne als persönlicher Feind Emmanuel Macrons und gerne wird daran erinnert, dass er dereinst auf dasselbe Gymnasium gegangen ist wie der Präsident: das Jesuiten-Lyzeum „La Providence“ in Amiens.

Ob er in zwei Jahren als Kandidat im Präsidentschaftswahlkampf gegen seinen Lieblingsfeind Macron antreten wolle, wird der Hoffnungsträger einer zersplitterten Linken derzeit von den Medien gefragt. Bislang hat er das verneint.

Neue Veröffentlichungen zu der Gelbwestenbewegung

Neben Ruffins Aufruf zur Volksfront hält der Bücherherbst auch Neuveröffentlichungen bereit, in denen die Gelbwestenbewegung aus der Innenperspektive beleuchtet wird. Ingrid Levasseur, die von den Medien schnell als Sympathieträgerin und Gesicht der Bewegung lanciert wurde, berichtet in „Rester Digne“ von ihrer langsamen Entfremdung in einer Bewegung, die sich immer weiter radikalisiert habe.

Die alleinerziehende Pflegekraft beklagt die wachsende Gewaltbereitschaft und Intoleranz, die ihr innerhalb der sozialen Netzwerke entgegenschlug, die für die Kommunikation innerhalb dieser vielschichtigen Gilets-Jaunes-Bewegung eine zentrale Rolle spielen.

In Bezug auf die staatliche Gegenseite hat David Dufresne in „Dernière Sommation“ seine Recherchen zu einem romanesken Sittenbild einer in Repression abgleitenden Staatsmacht verdichtet. Seit Beginn der Gelbwestenproteste hatte er eine Statistik der Verletzungen erstellt, die Gelbwesten durch gefährliche Gummigeschosse und -granaten der Ordnungskräfte erleiden.

Selbst „Le Monde“ veröffentlichte jüngst eine sorgfältig recherchierte Rekonstruktion von einem in Bordeaux missbräuchlich abgefeuerten Schuss, der einen Demonstranten lebensgefährlich verletzte.

Widersprüchliche Signale von Präsident Macron

Diese Gummigeschosse dienten dazu, Menschen vorsätzlich zu verstümmeln und damit andere von der Teilnahme an Demonstrationen abzuschrecken, urteilte die Konfliktforscherin Elsa Dorlin. Viele Gelbwesten berichten davon, dass die Polizeigewalt ein wesentlicher Grund für die schwindende Teilnahme an den Samstagsdemonstrationen der letzten Monate sei.

Auf den symbolträchtigen Champs-Élysées werden die Demonstrationen zum Jahrestag am 16. November ohnehin verboten sein, da, wo die schicken Luxusboutiquen einen Lebensstil feiern, der für Gelbwesten unerschwinglich ist.

Emmanuel Macron, der sich zunächst von den Protesten vor einem Jahr unberührt zeigte, hatte seit Anfang der Jahres in zahlreichen Bürgerforen mit Bürgermeistern und Lokalpolitikern diskutiert.

Er bemühte sich, zum Moderator in der Gelbwestenkrise zu werden, zögerte aber nicht, seine neoliberale Politik der Privatisierung von Staatsbetrieben wie dem Pariser Flughafenbetreiber voranzutreiben, gegen die u. a. die Gelbwesten opponieren. Den eingangs erwähnten Film über das französischen Bauernsterben hat sich der alerte Präsident im Élysée-Palast in einer Voraufführung zeigen lassen.

Auch der alte Jean-Luc Godard arbeitet an einem Film über die Gelbwesten. Anders als in seiner lenzen Filmcollage „Le Livre d’Image“, in der er mit Archivbildern die filmische Ikonografie des 20. Jahrhunderts verglühen ließ, will er jetzt auch selbst wieder drehen: eine Geschichte um eine Gilet Jaune, die sich von ihrem Freund trennt wie dereinst die Racine-Tragödin Bérénice vom Kaiser Tito, als der die Staatsräson über die Liebe stellte.

Den Zustand der französischen Gesellschaft will der greise Filmkünstler noch einmal fassen. Wenn das gelingt, wird die Gelbwestenbewegung endgültig ein Stück Kulturgeschichte Frankreichs.

Eberhard Spreng

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