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Heile Dinge. Christof Zwiener, Sonya Schönberger im Werkbundarchiv - Museum der Dinge.

© Björn Kietzmann

Gefunden auf Berliner Trümmerbergen: Was vom Milchwächter übrig blieb

Die Scherbenerzähler: Sonya Schönberger und Christof Zwiener zeigen Fundstücke aus Berliner Trümmerbergen. Ein Treffen im Museum.

Was ist das? Steingut, nein, Porzellan. Weiß, die Bruchkanten nachgedunkelt, auf einer Seite verlaufen geschwungene Rillen. Das muss was Rundes gewesen sein. „Made in Germany“ ist auf die andere Seite gestempelt. Aber was für ein Ding könnte diese Scherbe gewesen sein? Sonya Schönberger und Christof Zwiener haben lange gerätselt und sie dann Renate Flagmeier gezeigt. Sie ist leitende Kuratorin im Werkbundarchiv – Museum der Dinge und weidlich mit der Produktkultur des 20. Jahrhunderts vertraut. Und siehe da, die Museumsfrau hat’s sofort erkannt und die Künstler, die ab heute ihr Projekt „Scherben“ im Museum der Dinge in Kreuzberg ausstellen, zu einer der Vitrinen mit Haushaltsgegenständen geführt. Da liegt der gleiche Gegenstand, von dem das Bruchstück stammt, heil und glatt im hellen Museumslicht. Ein altbewährter Küchenhelfer, der Milchwächter. Er zeigt, in den Kochtopf gelegt, durch lautes Klappern deren baldiges Aufkochen an.

Der zerbrochene nicht mehr. Der zeigt dafür was ganz anderes an: dass Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche lag und seine Berge aus Trümmern geschichtet sind. So wie der Insulaner in Schöneberg, wo diese Scherbe herstammt. Gut 75 Meter hoch, 1951 eingeweiht, in den Sechzigern kam eine Sternwarte obendrauf. Oder Teufelsberg und Drachenberg im Grunewald, die Humboldthöhe in Gesundbrunnen, die Oderbruchkippe im Volkspark Prenzlauer Berg. Alles Trümmerberge, heute Parks und Aussichtspunkte, insgesamt 14 an der Zahl, von denen die Kreuzberger Enddreißiger und Anfangvierziger Schönberger und Zwiener zwei Jahren lang Scherben aufgelesen haben. Obwohl, was heißt Scherben, eigentlich eher Bruchstücke des Lebens, Erinnerungssplitter. Das, worüber das Gras zwar gewachsen ist, was die Natur durch umgestürzte Bäume, Erdbewegungen und Erosion von selbst wieder freigegeben hat. „Wir haben schnell gemerkt, dass wir nicht graben müssen“, sagt Sonya Schönberger, „die Dinge finden selbst den Weg nach oben.“ Ans Licht, in die Hände der Künstler. Die übrigens auch nicht graben würden. Das fühle sich falsch an, sagt Schönberger, Menschen oder Dingen zu nahe treten, das mache sie auch in ihren audiovisuellen Arbeiten nicht.

Sie stammt aus dem Rheinland, lebt seit 1996 in Berlin und hat erst Ethnologie an der FU und dann experimentelle Mediengestaltung bei Thomas Arslan an der UdK studiert. Christof Zwiener in Braunschweig Bildhauerei und Installation, er lebt seit 2004 in Berlin. Beide teilen nicht nur das Leben, sie sind verheiratet, sondern auch ein künstlerisches Faible für das Thema Erinnerungen. Für ihr Langzeitprojekt „Nix zu reißen und zu beißen“ hat Schönberger in Deutschland und den USA 60 Gespräche mit Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs geführt, für ein anderes russische Kriegsgefangene interviewt, für eine Ausstellung in New York das Leben ihres kriegsverletzten Großvaters in eine Installation verwandelt. Zwiener ist mit seiner Fotoserie „Twenty Years of Solitude“ bekannt geworden, in der er 250 DDR-Fahnenmaste dokumentiert, die im Ostteil Berlins als stumme Zeugen einer einstigen Staatssymbolik herumstehen.

Sein neues Projekt „ADN Pförtnerhaus“ – auch ein DDR-Überbleibsel, das jetzt künstlerisch bespielt wird, läuft seit zwei Wochen in Lichtenberg. „Ich bin Fürsprecher der kleinen, oft übersehenen Details der großen Geschichte“, sagt er. Und: „Ich benutze diese stummen Zeitzeugen, um etwas rauszukitzeln.“ Kollektive und subjektive Wahrnehmung, das ist sein Thema. Auch im Fall von „641 objects without qualities“, wie die Scherben-Spurensuche ursprünglich hieß. „Für uns sind sie Träger einer nicht zu Ende erzählten Geschichte“, sagt Sonya Schönberger.

Rund 1800 dieser fragmentarischen Geschichtsträger liegen im Raster geordnet, geputzt, aber völlig unsortiert im Ausstellungsraum. Auf ganz verschieden aussehenden Holztischen, die mit anthrazitfarbenem Filz belegt sind. Das meiste seien Überbleibsel von Gebrauchskeramik, da liege der Bezug zu Esstischen nahe. „Wir wollten die archäologische Präsentation der Fundstücke durch diese individuellen Tische auflösen.“ Das funktioniert. Beim Betrachten abgebrochener Henkel, zerbrochener Porzellanblüten, Flaschenstopfen oder Messerknäufe erscheinen unwillkürlich die Menschen, die die Sachen bis zum Bombenkrieg nutzten, vorm geistigen Auge. Die Väter, die mit dem Hakenkreuz-Wehrmachtsbesteck aßen. Die Kinder, die mit der Porzellanpuppe spielten, von der nur zwei zartrosa Scherben mit fein gestrichelten Wimpern übrig sind.

Längst nicht jeder Berliner kenne die Geschichte der Trümmerberge, vermuten Schönberger und Zwiener, für die sie unglaublich aufgeladene historische Mahnmale in einer zunehmend geschichtsvergessenen Stadt sind. 770 000 Wohnungen waren im Mai 1945 zerstört, rechnen sie vor. Bis 1958 wurden über Trümmerbahnen, also provisorisch auf den Straßen verlegten Schienen, rund 75 Millionen Kubikmeter Schutt aus den Straßen der Stadt zu den Trümmerhalden transportiert. Kaputter Hausrat, ausgelöschte Räume, versehrte Leben.

Und doch: Woher wissen die Künstler, dass ihre Scherben wirklich aus dem zerbombten Berlin stammen. „Es sind keine scharfen Scherben darunter“, sagt Christof Zwiener. Tatsächlich sind alle Bruchstellen nachgedunkelt und stumpf, also alt. Außerdem lägen Teufelsberg und Drachenberg so abseits, dass da heute keiner seinen Hausrat hinschleppe, vermutet er. „Wenn überhaupt haben wir zwei Prozent Verunreinigung.“ Verunreinigte Kunst? Das klingt dann doch ein bisschen nach einer wissenschaftlichen Ausgrabung. So sehen auch die weißen Baumwollhandschuhe aus, mit denen er beim Ausstellungsaufbau hantiert. Die Scherben selbst, die sehen vor allem gezeichnet aus, abgelebt, gewesen. Nicht nur die Milchwächterscherbe gibt Rätsel auf. Dieser zierliche weiße Kegel hier, was der wohl war? „Die Nase eines Clowns“, glaubt Schönberger. Oder doch nur Zierrat an Tante Emmis Zuckerdöschen? Ach, und die Murmel da, von den Zeitläuften völlig unbeeindruckt. Weiß und kühl rollt sie in der Handfläche umher. Nichts vom Erlebten ist dem Kügelchen anzusehen, nur ein paar bunte Schlieren schimmern im Licht.

Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Oranienstr. 25, bis 3. März, Do-So 12-19 Uhr

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