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„Ich habe die Flucht von meinem Großvater geerbt“, schreibt Yamen Hussein. „Er flüchtete nach Syrien, ich aus Syrien.“

© Imago

Geflüchtete und Deutsche im Dialog: Projekt "Weiter Schreiben": Das Erbe der Flucht

Yamen flieht aus Syrien. In München lernt er Lena kennen. Sie werden Teil des Literaturprojekts "Weiter Schreiben", das Geflüchtete und deutsche Autoren in Dialog bringt. Zwei Auszüge.

Grab im Weinberg / Von Yamen Hussein

In den Dörfern der Ebenen von Homs und Hama waren die Dreschplätze und Weinberge nicht eingezäunt. Sie glichen Steppen, die sich mit den Jahreszeiten unterschiedlich färbten. An den tiefer liegenden Hügeln lag felsiger Schutt und manchmal thronte dort auch ein wilder Feigenbaum wie das Tor zu einem offenen Land. Wie so oft fällt dein Blick auf große und kleine Kieselsteine zwischen den Weinstöcken. Manchmal markieren diese Steine die Grenze der Dreschplätze, einen kranken Baum oder ein kleines Vogelnest; manchmal deuten sie aber auch auf Geheimnisse hin. Mein Großvater väterlicherseits war vom Tod besessen. Er schaufelte sich direkt an seinem Weinberg ein Grab. Er schlug es in den Felsen und legte sich darauf, damit er seine Größe abschätzen konnte. Das tat er täglich, bis es der Länge und der Breite nach passte.

Er wollte damit nicht etwa seinen Tod, sondern sein Überleben in den osmanischen Kriegen ehren, die ihn im letzten Jahrhundert in den Jemen verschlagen hatten. Damals war es ihm erst nach sieben Jahren gelungen, zu desertieren und in sein Dorf zurückzukehren. Seine Familie hatte in all diesen Jahren, in denen er im Krieg und auf der Flucht war, keine Nachricht von ihm erhalten. Seine Kinder dachten, er wäre schon lange gestorben. Bevor er in den Krieg ziehen musste, wollte er nach Amerika auswandern. Er hatte sich mit einem Freund zum Hafen von Tripolis aufgemacht, in der Hoffnung, ein Schiff zu erwischen, das ihn nach Amerika mitnahm. Aber er hatte kein Glück. Er wurde festgenommen und in den Krieg geschickt. Die osmanische Armee beendete seinen Traum von Amerika. Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er in einem Dorf östlich von Homs. Er war kurzsichtig und arm. Er starb, bevor meine Geschwister und ich geboren waren. Sein Vermögen war ein Grab neben seinem Weinberg, perfekt in einen großen Felsen gehauen. Von ihm existiert nur ein Bild in einem Messingrahmen, das in unserem Wohnzimmer hänge. Jedes Jahr beim Frühjahrsputz hängen wir das Bild ab. Sein einfacher Schnurrbart und seine bäuerliche Kleidung bekommen dadurch ihren Glanz zurück. Dann platzieren wir das Bild wieder ganz oben in der Mitte der Wand und vergessen ihn für ein Jahr.

Sein Grab ragt heute in einem Wein- und Mandelgarten, dessen Pflanzen wenige Früchte tragen, wie eine Vogelscheuche empor. Es liegt genau in der Mitte zwischen dem Dorf und den fernen Weiden. Manchmal wird das Grab von Wanderern als Esstisch benutzt, um eine Pause einzulegen. Manchmal stellen Arbeiter im Garten ihre Wasserbehälter in seinen Schatten, um sie zu kühlen.

Ich habe die Flucht von meinem Großvater geerbt. Ich glaube, ich beherrsche sie gut. Er flüchtete nach Syrien, ich aus Syrien. In jedem neuen Land lege ich meine Kieselsteine mitten auf die Straße und auf jeden Dreschplatz. Alle Städte der Welt sind meine Grenzen. Ich wünsche mir keinen Tod, der mich tröstet. Damit habe ich nichts zu tun. Ich möchte wie er meine Rettung ehren und eine angemessene Beileidsbekundung für den Tod meines Landes abgeben.

Der Fluch des Hubschrauberschattens

In meiner Kindheit waren die offiziellen Baath-Partei-Feste eine Gelegenheit, einen Tag schulfrei zu bekommen und die Schuluniform loszuwerden. An diesen staatlichen Feiertagen kreuzten Hubschrauber über uns und warfen bunte Flugblätter des Despoten ab. Wir standen in den Gassen und an den Nebenstraßen und beobachteten die Schatten der Hubschrauber. Wir rannten hinter den Zettelbündeln her, die aus den Bäuchen der am Himmel in der Mittagssonne glänzenden Hubschrauber zu uns herunterflatterten. Lauter leuchtende Farben wurden über uns abgeworfen. In kindlicher Vorfreude wussten wir, wo ungefähr die himmlischen Briefe heruntersegeln würden, und rannten dorthin. So wie die Ratten dem Flötenspieler folgten und im Wasser ertranken, folgten unsere jungen Körper dem Lärm der Hubschrauber. Waren sie verschwunden, schlenderten wir zwischen den Abgasen der Autos entlang von Gasse zu Gasse und sprangen über Pfützen, um noch mehr Zettel zu ergattern. Immer hofften wir, einige der buntesten zu bekommen als Ersatz für unser graues Gedächtnis, das von den wenigen schwarzweißen Bildern in unseren Schulbüchern gespeist war.

Manchmal gab es Streit über die Zettel, die wie Akrobaten in der Luft schwebten. Ich erinnere mich, dass ich am Jahrestag des Baath-Putsches sieben Stück gesammelt hatte. Ich hatte den Kampf mit einem Verwandten um einen achten verloren. Er war blau und rosarot. Und der einzige Zettel, der zweifarbig war. Ich wünschte mir diesen Zettel so sehr. Ihn zu fangen wäre ein großartiger Sieg gewesen. Tatsächlich haben wir nicht alles, worum es auf diesen Flugblättern ging, verstanden. Der Text hat uns gar nicht interessiert. Die Farbe und die Anzahl waren viel wichtiger. Es dauerte 15 Jahre, um ihre Botschaften begreifen zu können; um zu verstehen, dass wir, ohne darüber nachzudenken, den Tod mit unseren Händen aufgefangen hatten; und zu erfahren, dass die Schlammpfützen, über die wir als Kinder sprangen, zu Blut wurden. Heute müssen wir in die entgegengesetzte Richtung laufen als früher, als wir den Hubschraubern hinterherliefen.

Aus d. Arabischen von Suleman Taufiq

Abschied im Englischen Garten / Von Lena Gorelik

Als Yamen von München nach Leipzig zieht, hinterlässt er mir diesen Gedanken, dieses andere München. Das andere München ist eine Landkarte der Gefühle. Eine Stadt, die nicht aus Flüssen und Brücken, großen Straßen, Autobahnzubringern, Fahrradwegen, Parks besteht. Sondern diese eigene Landkarte im Kopf: Dort bin ich viel spazieren gegangen, als ich den schlimmen Liebeskummer hatte; auf diesem Platz habe ich geweint, in dieser Straße ist der Hauseingang, in dem meine Freundin und ich mit Wein von der Tankstelle saßen.

Ich verlasse das Café, in dem Yamen und ich uns das letzte Mal treffen, bevor er diese Stadt, die er liebt und in der ich lebe, verlässt, beinahe verwundert: Als wäre sie plötzlich eine andere, eine mit mehr Sinn. Als Yamen von München nach Leipzig zieht, tut er das, erzählt er mir, unsicher: Er weiß nicht genau, was da ist, in Leipzig, wo er kaum Leute kennt; und dass er München lieben gelernt hat, obwohl er das nicht unbedingt wollte; die erste Stadt ohne Angst nach seiner Flucht. Das erzählt er mir in dieser ruhigen Art, in der er auch die anderen Dinge erzählt, die man unter Traurigkeit einordnen würde, Sehnsucht, Verlust, aber die Wörter sind groß und passen nicht zu den mit dieser Ruhe erzählten Geschichten.

Yamen stellt die deutscheste aller Fragen

Als Yamen nach München kam – nach dieser Reise, die in Syrien begann und vorerst in Leipzig endet, die nur in Yamens eigene Worte, diese vorsichtig gewählten, zu fassen ist –, war er zu müde oder zu weit gereist, um München lieben lernen zu wollen. Aber die Sache mit der Liebe ist die: Man entscheidet sich nicht dafür. Als Yamen Syrien verlies, weil er verfolgt wurde als jemand, der politisch, ehrlich und angstfrei schrieb, als er die Tür seines Elternhauses schloss, war sein Vater nicht da. Das war kein Zufall, es war ihm zu viel, dieser große Abschied, in dem vielleicht kein Wiedersehen steckt. Seine Mutter ließ die Tür offen, für die Hoffnung, ihren Sohn in ein paar Wochen, Monaten wiedersehen zu können, vielleicht. Das lässt sich nicht gut vorstellen, in einem Café in München, wie das wäre, wenn mein Sohn eines Tages so geht. Yamen erzählt, und ich weiß, es macht keinen Sinn, sich das vorzustellen, ein Gefühl, das nicht zu fassen ist und nicht zu denken. Yamen erzählt, und ich sage nichts, vielleicht werfe ich manchmal Worte ein, die ihm nicht einfallen wollen, weil die deutsche Sprache manchmal so ist, launisch, störrisch, bis mir fast so ist, als würde ich sie kennen, seine Mutter und seinen Vater, aber ich kenne sie natürlich nicht. So schreibt Yamen auch, es geht einem beim Lesen so, als würde man seine Gefühle kennen, aber man kennt sie natürlich nicht.

Es ist schwierig, über Lyrik zu sprechen, für jemanden, der nur Prosa schreibt wie ich, der sich an Lyrik nie herantrauen würde, für den Lyrik wie der Horizont ist: Man darf ihn ansehen, aber erreicht ihn nie. Es ist vielleicht auch schwierig für Yamen, über Lyrik zu sprechen, weil es immer nicht einfach ist, über eigene Texte – und damit Gedanken, Gefühle, sich selbst – zu sprechen. „Wie geht es dir?“, will er wissen, er stellt die deutscheste aller deutschen Fragen, die, auf die es nur eine Antwort gibt, gut, aber Yamen meint es nicht so. Er will wissen, wie es mir geht, also erzähle ich ihm, von meinem Vater, weil er mir von seinem erzählt hat, und vom Schreiben und wie es manchmal kein Schreiben gibt. „Ah“ sagt Yamen dann, und gibt der Denkpause Zeit, bevor er eine Antwort gibt; so ist es mehr als eine Antwort. Die Denkpause finde ich beim Lesen in seinen Gedichten wieder.

Stadtplan seiner Gefühle

Als Yamen von München nach Leipzig zieht, erzählt er mir von seiner Liebe zu München, dieser besonderen, ungeplanten Liebe. Er will sich von München verabschieden, solange es sein München ist, erzählt er mir, als es noch zwei Tage bis zur Abreise sind. Er wird bald wiederkommen, aber er ist sich jetzt schon seines Selbst beim Wiederkommen bewusst: Er wird dann Besucher sein, Gast. Er will sich von seinem München verabschieden, sagt er und erzählt vom Stadtplan seiner Gefühle: wo er traurig war, wo glücklich. Straßenzüge, die für ihn Bedeutung haben und vielleicht sonst für niemanden. Ecken mit Momenten, an denen die Erinnerung festgewachsen ist.

Wir sitzen in einem Café, das in den Englischen Garten hinausgeht, als er mir das erzählt, und ich muss an diesen Sommertag denken, an dem ich mit jemandem unter einem Baum saß, den ich von hier aus sehen kann. Wir waren dabei, die Bedeutung füreinander zu verlieren, und der Nachmittag, an dem wir unter diesem Baum saßen, war ein Zeichen dafür. Das ist der erste Punkt, den ich in meine Landkarte der Gefühle einzeichne, dieses neue München in meinem Kopf, und ich drehe mich um, um mich bei Yamen für diesen Gedanken, für diesen berührenden neuen Blick zu bedanken, aber ich sehe ihn nicht, er ist bereits um die Ecke gebogen.

Yamen Hussein, Lena Gorelik

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