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Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin. Nora Bossong 2017 in Leipzig.

© imago/STAR-MEDIA

Gedichte von Nora Bossong: Europa – die verschreckte Zwergin am Ende der Welt

Lyrischer „Kreuzzug mit Hund“: Die Berliner Dichterin Nora Bossong reanimiert den „West-östlichen Divan“.

Kreuzzüge gehören seit je zu den aggressivsten Politikprojekten – aber sind sie auch poesiefähig? Unter religiösen Imperativen versuchten einst die katholischen Mächte des Mittelalters die muslimische Welt im „Heiligen Land“ zu unterwerfen. Damit war die Lunte für verheerende Religionskriege gelegt. Wenn nun Nora Bossong diese Vokabel der imperialistischen Ambition in den Titel ihres neuen Gedichtbands rückt, erwartet man die Entzauberung des alteuropäischen Eroberungswahns.

Bossongs „Kreuzzug mit Hund“ setzt denn auch ironische und melancholische Akzente, die den Machtanspruch von Religion und Politik unterlaufen. Bereits im ersten Kapitel werden uns zwei prominente alte Damen vorgestellt. Da ist zum einen die betagte Göttin Europa, die Gestalt des antiken Mythos, die einst von Zeus geschändet wurde. Sie schrumpft in der Perspektive des Eröffnungsgedichts zur „verschreckten Zwergin am Ende der Welt“, die der Aufmunterung bedarf. Überschrieben ist dieses kulturhistorische Streiflicht mit Enzensbergers berühmtem Stoßseufzer „Ach Europa“, mit dem er 1987 seine Sammlung von Länderreportagen betitelte.

Eine ähnlich ironische Betrachtung widmet Bossong der „Alten Tante Politik“, einer allegorischen Gestalt, die, vom Alter gebeugt, nur noch eine museale Existenz führt: „… sie ist alt, sie ist endlos müde, träumt / vom Rücktritt, würde gern in den Farben untergehen. / Doch sie bleibt, und da hängt sie: Raum zwölf, Zweite / von rechts. Das ist ihr Aufstand nach Vorschrift.“

Reisebewegungen in Richtung Orient

In den folgenden Kapiteln entfaltet das lyrische Subjekt eine große Reisebewegung, die vom alten Okzident in den Orient führt: Nach poetischen Tiefbohrungen in Metropolen wie Madrid oder Genua oder kulturhistorisch reichen Orten wie dem Kloster Corvey führt der Weg tatsächlich ins „Heilige Land“ und schließlich zu den „Mysterien“ der persischen Kultur. In neun Kapiteln hat sich Nora Bossong einen eigenen „West-östlichen Divan“ erschaffen, der kleine Erzählgedichte, streng gefügte Parabeln und impressionistische Vignetten enthält – von durchaus unterschiedlicher Qualität.

Lyrische Meisterstücke, wie das lyrische Gleichnis „Kurzes Asyl“, das die großen Migrationsbewegungen der Jetztzeit als bukolische Szene mit einer „Zickleinherde“ darstellt, wechseln sich ab mit erkennbar bildungstouristisch gefärbten Genrebildern („Hier gibt es Tortilla, Sardellen, roten Fusel“), die über poetisierte Tagesprotokolle kaum hinausgehen. In der letzten Abteilung des Bandes, den „Mysterien“, versucht Nora Bossong die ästhetische Utopie einer kulturellen Synthese von Orient und Okzident auszupinseln.

Die Versformel für die Zusammenführung der Gegensätze liefert das Schlussgedicht das Bandes, in dem das „tschilpende Orakel“ der Vögel Wirkungsmacht entfaltet: „Pickten/ Zukunft aus einer Schachtel: ein Vers Hafez, ein Funken /Assisi. Doch hier sprachen nicht die Heiligen mit Vögeln / sondern die Vögel mit uns…“ Die Dichtung des persischen Mystikers Hafis, verbunden mit dem sozialen Impuls von Franz von Assisis Armenevangelium – das ist Nora Bossongs kühne Vision einer kulturellen Synergie, die sich gegen den clash of cultures auflehnt. Am Ende von „Kreuzzug mit Hund“ bilanziert die Autorin in konzentrierten Geschichtsbildern die kulturellen Verluste. Sowohl in der deutschen Provinz als auch in der islamischen Republik des Iran haben die religiösen Heilsversprechen ausgedient: „Die Preise für Tee steigen noch immer, / fürs Jenseits nehmen sie weiter ab.“

Nora Bossong: Kreuzzug mit Hund. Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2018. 112 S., 20 €.

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