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Wie war das damals eigentlich? Jugendliche besuchen die Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, ein ehemaliges Konzentrationslager.

© imago/Jürgen Ritter

Gedenken an NS-Opfer: Wie vermittelbar ist das Wissen über den Holocaust heute?

In den Jahrzehnten nach dem Krieg war das Grauen noch nahe. Zeitzeugen berichteten davon. Inzwischen ist das Gedenken vor neue Herausforderungen gestellt.

Von Caroline Fetscher

Wir Kinder wurden hellhörig, wenn Erwachsene in den sechziger Jahren seltsame Wörter sagten, die wie Andeutungen klangen. Vermutlich kam das häufiger vor, als Zeitungen und Radiosender von den Auschwitz-Prozessen berichteten, die 1963 am Landgericht in Frankfurt am Main begonnen hatten, initiiert von Hessens Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Keiner entkam diesen Nachrichten. Mitten im habituellen Beschweigen wurden die Deutschen heimgesucht von der Erinnerung an die unmittelbare Vergangenheit, der Wiederaufbau und Wirtschaftswunder wirksam die Tür verriegelt hatten.

Schuld und Beklommenheit schwangen mit in den seltsamen Wörtern der Erwachsenen. Eins davon war „die Zone“. Verwirrend stand das für ein irgendwie verbotenes Gebiet, das von unsrem Land abgeschnitten worden war, weil es „den Krieg“ gegeben hatte. In dem Krieg war Unaussprechliches geschehen, und dafür war das Wegspalten „der Zone“ offenbar die Strafe.

Nach und nach kamen weitere geheimnishafte Begriffe dazu, wie „die Juden“, „die Nazis“ oder „der Transport“. Von einer Nachbarin sagten Leute, sie hätte „den Transport überlebt“, was „schier unglaublich“ war. Das sagten sie so gehemmt wie bewundernd. Über einen Mann am Ende der Straße hieß es hinter vorgehaltener Hand: „Der war ein dicker Nazi“. Ein Lehrer ging an Krücken. Wenn er in Wut geriet, drohte er der Klasse mit der rechten Krücke. „Der war eben im Krieg“, beschwichtigten uns jüngere Lehrer.

Verstohlen deutete ein Bekannter der Eltern auf eine Dame, die in der Grünanlage ihren Hund ausführte: „Die hat damals welche verraten und ins KZ gebracht.“ Der stärkste der schwer lastenden Begriffe war „das KZ“. Das war ein anderes Wort für Grauen, soweit hatten wir verstanden. Aber die Frau dort lief frei herum. Warum?

Nachkriegskinder lasen das Tagebuch von Anne Frank – und waren entsetzt

Was sich in der Vergangenheit ereignet hatte, erhielt später festere Umrisse und dichteren Gehalt. Je mehr die Nachkriegskinder vom Nationalsozialismus erfuhren, desto unheimlicher konnten ihnen die Erwachsenen werden, dieselben Menschen, auf die sie angewiesen waren, zu denen sie Vertrauen brauchten. Spätestens am Ende der Adoleszenz war den meisten von uns klar: Auf der Generation der Eltern und Großeltern lastet die Beteiligung an einem maßlosen Verbrechen – oder jedenfalls das Wissen darüber.

Millionen Kinder, Frauen, Männer, die genau so wie wir und genau da gelebt hatten, wo wir heute lebten, waren grundlos diffamiert und systematisch ermordet worden, da sie zu „den Juden“ gehörten. Oder zu denen, die das Ermorden der Juden nicht dulden wollten.

Viele Nachkriegskinder lasen das Tagebuch von Anne Frank, Aufzeichnungen eines jüdischen Mädchens, das in Amsterdam im Versteck lebte, ehe es ins Todeslager deportiert wurde. Wir lasen mit Entsetzen, weinend und zornig. Wie war derart monströses Unrecht möglich geworden? Gespräche darüber mit den Eltern, den Älteren waren rar. Wir wuchsen unter Zeitzeugen auf, als bei diesen der zeitverzerrende Begriff „Schlussstrich“ Karriere machte.

Laut geworden war die Forderung schon im Gründungsjahr der Republik, als die Wahlwerbung der Freien Demokraten, die damals sehr nationalistisch gesinnt waren, „Schlussstrich drunter!“ forderte, und das Abschaffen von „Entnazifizierung, Entrechtung, Entmündigung“. Bei Umfragen ab Ende 1945 bis Ende 1946 bejahte rund die Hälfte der Befragten die Aussage, der Nationalsozialismus sei „eine gute Idee“ gewesen, die nur „schlecht ausgeführt“ wurde.

Es folgte, in mehreren Schüben, die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit: Prozesse gegen Kriegsverbrecher, Theaterstücke wie „Die Ermittlung“ von Peter Weiss, Kino- und Fernsehfilme zur Shoah, die Aufnahme des Stoffs in die Curricula der Schulen, das Einrichten von Gedenkstätten, das Verlegen von Stolpersteinen zur Erinnerung an individuelle Opfer – und immer wieder öffentliche Skandale, etwa Martin Walsers Aufbegehren wider „Auschwitz“ als „Moralkeule“. Walser führte, zwanzig Jahre vor dem „Vogelschiss“ der AfD, exemplarisch vor, dass Wissen (über welches er verfügte) noch lange nicht Bewusstsein bedeutet (über welches er nicht verfügte).

„Nicht schon wieder Juden und Nazis!“ meutern Schüler häufig

Indes sinkt die Zahl der Zeitzeugen stetig. Jugendliche begegnen ihnen inzwischen nur selten. Einige Schulen laden die letzten, betagten Überlebenden ein, und Lehrinnen, Lehrer haben Mühe, die in die Ferne rückende Vergangenheit zu vermitteln, während parallel alte und neue antisemitische, antiisraelische Stereotypen Raum greifen, gerade auch bei muslimischen Kindern und Jugendlichen. „Nicht schon wieder Juden und Nazis!“ meutern Schüler häufig. Sind das Echos der Walserianer oder Palästinastreiter aus ihrem Zuhause? Erzeugt allzu drängendes oder zu flaches Vermitteln den Überdruss? Keine Umfrage könnte darauf eine Antwort liefern.

„Zeigen Sie uns mal Ihr Tattoo?“, fragten Kinder einer ostdeutschen Schulklasse vor einer Handvoll Jahren einen KZ-Überlebenden, der darüber milde lächelte, während der Lehrer in Scham versank. Eine Deutschlehrerin im Rhein-Main-Gebiet erlebt, dass Lektüre wie „Damals war es Friedrich“ von 1961 oder „Adressat unbekannt“ von 1983 immer noch packen kann, „allerdings zieht das nicht bei allen.“ Anne Franks Tagebuch erweise sich, berichtet sie, meist als „zu zähe Lektüre“.

In die Lage der Teenagerin, die sich vor uniformierten Mördern in Sicherheit bringen musste, können oder wollen sich nur noch wenige versetzen. Erzählte Schicksale von Tierwaisen berührten sie stärker als Anne Franks Briefe an die imaginäre Freundin Kitty, bekennt eine vierzehnjährige Berlinerin.

Beim Besuch einer Ausstellung zur Entrechtung der Juden erfuhren Zehntklässler, dass jüdische Familien ihre Haustiere, ihre Hunde abgeben mussten. „Die armen Hunde! Wohin kamen die dann?“ erkundigte sich die Gruppe bei der konsternierten Museumsführerin. „Juden zahlen keine Steuern, und denen gehört Aldi, Lidl, Mediamarkt - alles!“ Solchen Vorstellungen begegnet der Psychologe Ahmad Mansour regelmäßig in seiner Arbeit gegen den Antisemitismus muslimischer Jugendlicher in Deutschland.

Weit, weit weg wirkt der Holocaust auf viele heutige Jugendliche

Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wollten 2014 etwa acht von zehn Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“; gerade die Jüngeren stachen hier besonders hervor. Ein paar Wochen alt ist der „Eurobarometer 484“, eine Umfrage der Europäischen Kommission zur Wahrnehmung des Antisemitismus in jenen Mitgliedsstaaten, in denen 96 Prozent der jüdischen EU-Bevölkerung leben. Danach halten fünfzig Prozent Antisemitismus für ein Problem in ihrem Land, eines, das in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat.

Weit, weit weg wirkt der Holocaust auf viele heutige Jugendliche. Früher waren Kinder und Jugendliche fasziniert von den Verliesen und Folterkammern in Ritterburgen am Rhein. Jetzt werden vereinzelt Tendenzen deutlich, den Zivilisationsbruch der Shoah einzureihen in die Serien der Horrorvideos und Gruselthriller, die junge Leute im Internet konsumieren. Einige, vor allem Jungen, sind darauf erpicht auf einen Ausflug zum „total echten“, „voll krassen“ Ort Auschwitz, bar jeder politischen oder empathischen Absicht. Und Entsetzen allein wird dagegen gar nichts ausrichten.

Freilich gibt es auch engagierte Jugendliche, die etwa Biographien von NS-Opfern nachspüren, wie die Schülerinnen und Schüler des Leistungskurses Geschichte am Albert-Einstein-Gymnasium. Mit der sozialistischen Falken-Jugend sorgten sie dafür, dass im November 2018 in der Britzer Hufeisensiedlung in Berlin ein Stolperstein für den jüdischen Sozialdemokraten und Autor Bruno Altmann gesetzt wurde. Die Gedenkfeier für ihn hatten die Jugendlichen selber gestaltet.

Monika Grütters will das Geschichtsbewusstsein stärken

Monika Grütters, die amtierende Kulturstaatsministerin, will jetzt das Geschichtsbewusstsein der jungen Generationen stärken. Für ihr Programm „Jugend erinnert“ haben Historiker und Bildungsexperte praxisnahe Konzepte entwickelt, die Begegnungen und Besuche in Gedenkstätten fördern sollen. Vorgestellt wird das Programm am 29. Januar am Ort der Information des Berliner Mahnmals für die ermordeten Juden Europas.

So notwendig das Erinnern an Massenmord, Menschheitsverbrechen und die Schuld der Tätergesellschaft ist, so wichtig scheint das Auffalten einer lebendigen Sphäre jüdischen Lebens. Rund siebzig Prozent der EU-Bürger meinen derzeit laut der Eurobarometer-Studie, dass die Mehrheit in ihrem Land mangelhaft informiert ist über jüdische Geschichte und Kultur – sprechender Beleg für Forderungen wie die von Nicola Galliner, Leiterin des Jüdischen Filmfestivals Berlin und Brandenburg.

Historische wie aktuelle Vermittlung müsse endlich über „tote Juden“ hinausreichen, sagt Galliner, und erwähnt den verblüffenden Effekt etwa von Eyal Halfons Filmkomödie „90 Minuten - bei Abpfiff Frieden“, worin ein Fußballmatch zwischen Israelis und Palästinensern zum Mikrokosmos des Friedensprozesses im Nahen Osten wird. Jugend kann de facto nicht „erinnern“, was sie nicht erlebt hat. Jugendliche können Wissen erlangen - und nur durch Empathie wird Wissen zu Bewusstsein.

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